Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Heikle Späße und schwache Nerven
Die Länder und der Bund ringen erneut um die richtige Strategie. Der Druck zu Öffnungen nimmt zu, gleichzeitig ist das Infektionsgeschehen noch nicht unter Kontrolle. Der Ton wird rauer.
BERLIN Man verabredet sich immer für 14 Uhr. Um dann doch stets später zu beginnen. Auch am Mittwoch zeigt die Uhr 14.37 als die Kanzlerin das Wort ergreift, um die zweiministerpräsidentinnen und die 14Ministerpräsidenten digital aus dem Kanzleramt zu begrüßen. Nur der amtierende Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) und sein Stellvertreter Markus Söder, Csu-regierungschef aus Bayern, sind vor Ort in Berlin.
Der Tag beginnt für manchen Mitarbeiter von Staatskanzleien im Land mit einem Fragezeichen. „Kontaktreicher Sport wie Material Arts-kämpfe [sic!] in Innenräumen und insbesondere Käfigen“, taucht in der aktuellen Beschlussvorlage aus dem Kanzleramt auf. Auf Seite sieben unter Punkt sieben beim fünften Öffnungsschritt. Sport in Käfigen? Kopfschütteln bei den Beteiligten. Später wird bekannt, dass sich Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) einen Gag erlaubt hat, als er die Vorlage an den Chef der Berliner Staatskanzlei geschickt hatte. Ein Insider. Die Wörter verschwinden dann wieder aus dem Papier. „Der Druck ist so groß – auch eine Art des Stressabbaus“, sagt einer, der Braun gut kennt.
Insgesamt ist den Verhandlern nicht zum Lachen zumute. Es sei ein „wichtiger Tag“, eröffnet Merkel die Sitzung. „Wir können den Übergang in eine neue Phase gehen“, wird sie von Teilnehmern zitiert. Zuvor hatten die Ministerpräsidenten in einer gesonderten Runde ohne Merkel miteinander beraten. Klar wurde: Einig ist man sich nicht. Anspannung. Söder verliert die Geduld beim Thema Impfungen. Das Motto müsse sein: „All you can vaccinate“, sagt er. Man müsse aus der starren „Impfbürokratie“in mehr Flexibilität kommen. Deshalb müsse man so schnell wie möglich alle Ärzte einbeziehen. Später einigt man sich, dass ab April auch die niedergelassenen Ärzte impfen sollen. Söder und Laschet geraten aneinander. „Das ist kein Ulk“, sagt Söder Teilnehmern zufolge auf eine Bemerkung Laschets. Am späteren Abend rasseln dann Söder und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) in der Debatte um Härtefallfonds für Wirtschaftsbetriebe aneinander. Söder zu Scholz: „Ich weiß nicht, was Sie getrunken haben! Sie sind hier nicht Kanzler!“Und Söder kurz danach weiter: „Da brauchen Sie gar nicht so schlumpfig herumgrinsen!“Dann schaltet sich Mecklenburg-vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) ein, unterstützt Scholz und wirft Söder vor, dass Stilkritik ausgerechnet von ihm doch übertrieben sei. Die Nerven liegen blank.
Zwei Stunden wird über das Impfen beraten, zwei Stunden über das Testen. Schnelltests für alle Bürger kommen erst im April. Merkel und die Ministerpräsidenten müssen zwei Herausforderungen begegnen: Einerseits hat das Sinken der Infektionszahlen in den vergangenen Wochen breite Hoffnungen auf ein schrittweises Ende des Lockdowns geweckt. Andererseits sind die Zahlen in den vergangenen Tagen wieder gestiegen, auch wegen der Virus-varianten. „Im Detail wird das sicherlich noch ganz schön kompliziert“, sagte Merkel voraus. Und behält recht.
Öffnen ohne klaren Fahrplan fürs Testen und Impfen? Viele Ministerpräsidenten haben Bauchschmerzen dabei. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bekommt den Frust ab. Der Bedarf an Schnelltests wird höher geschätzt als in den Planungen des Gesundheitsministeriums. Merkel rechnet vor, dass der monatliche Bedarf bis 150 Millionen Schnelltests betragen könne – je nachdem wie viele Menschen sich testen ließen und welche Öffnungsschritte man mit Tests verbinde. Hersteller hätten in Gesprächen angegeben, bis zu 40 Millionen Stück pro Woche zu liefern, heißt es weiter. Es werde eine Taskforce geben, die sich um die Bestellung kümmern solle. Sehr unerfreulich für den in der Kritik stehenden Spahn.
So wirklich gute Stimmung kommt auch im weiteren Verlauf der Sitzung nicht auf. Das Kanzleramts-papier vom Morgen sah eingeschränkte Öffnungen in Regionen vor, in denen die 100er-marke von Infizierten je 100.000 Einwohnern in sieben Tagen unterschritten wird. Neben Terminshopping-angeboten könnten dann Museen, Galerien, zoologische und botanische Gärten „für Besucher mit vorheriger Terminbuchung“geöffnet werden. Söder warnt vor zu weitreichenden Lockerungen: „Die Inzidenzen holen uns ein“, sagt er. Merkel jedoch zeigt sich kompromissbereiter, will Öffnungen im Einzelhandel ausloten. Es gibt heftige Diskussionen.
Man richte sich noch auf einen langen Abend ein im Kanzleramt, schreibt einer aus den Beratungen heraus. Eine kurze Unterbrechung gibt es: Pause, kurz durchlüften. Dann kommt eine Vierer-runde zusammen: Merkel, Söder, Müller und Scholz. Sie sollen die weitere Linie ausloten. Nach dieser Runde gibt es ein weiteres Papier: Überschrieben ist es mit „Zwischenstand“. Die Uhr zeigt 22.15. Ausgang ungewiss.
Als diese Zeitung produziert wurde, waren die Beratungen noch nicht beendet.