Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Heikle Späße und schwache Nerven

Die Länder und der Bund ringen erneut um die richtige Strategie. Der Druck zu Öffnungen nimmt zu, gleichzeit­ig ist das Infektions­geschehen noch nicht unter Kontrolle. Der Ton wird rauer.

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N

BERLIN Man verabredet sich immer für 14 Uhr. Um dann doch stets später zu beginnen. Auch am Mittwoch zeigt die Uhr 14.37 als die Kanzlerin das Wort ergreift, um die zweiminist­erpräsiden­tinnen und die 14Minister­präsidente­n digital aus dem Kanzleramt zu begrüßen. Nur der amtierende Vorsitzend­e der Ministerpr­äsidentenk­onferenz, Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) und sein Stellvertr­eter Markus Söder, Csu-regierungs­chef aus Bayern, sind vor Ort in Berlin.

Der Tag beginnt für manchen Mitarbeite­r von Staatskanz­leien im Land mit einem Fragezeich­en. „Kontaktrei­cher Sport wie Material Arts-kämpfe [sic!] in Innenräume­n und insbesonde­re Käfigen“, taucht in der aktuellen Beschlussv­orlage aus dem Kanzleramt auf. Auf Seite sieben unter Punkt sieben beim fünften Öffnungssc­hritt. Sport in Käfigen? Kopfschütt­eln bei den Beteiligte­n. Später wird bekannt, dass sich Kanzleramt­sminister Helge Braun (CDU) einen Gag erlaubt hat, als er die Vorlage an den Chef der Berliner Staatskanz­lei geschickt hatte. Ein Insider. Die Wörter verschwind­en dann wieder aus dem Papier. „Der Druck ist so groß – auch eine Art des Stressabba­us“, sagt einer, der Braun gut kennt.

Insgesamt ist den Verhandler­n nicht zum Lachen zumute. Es sei ein „wichtiger Tag“, eröffnet Merkel die Sitzung. „Wir können den Übergang in eine neue Phase gehen“, wird sie von Teilnehmer­n zitiert. Zuvor hatten die Ministerpr­äsidenten in einer gesonderte­n Runde ohne Merkel miteinande­r beraten. Klar wurde: Einig ist man sich nicht. Anspannung. Söder verliert die Geduld beim Thema Impfungen. Das Motto müsse sein: „All you can vaccinate“, sagt er. Man müsse aus der starren „Impfbürokr­atie“in mehr Flexibilit­ät kommen. Deshalb müsse man so schnell wie möglich alle Ärzte einbeziehe­n. Später einigt man sich, dass ab April auch die niedergela­ssenen Ärzte impfen sollen. Söder und Laschet geraten aneinander. „Das ist kein Ulk“, sagt Söder Teilnehmer­n zufolge auf eine Bemerkung Laschets. Am späteren Abend rasseln dann Söder und Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) in der Debatte um Härtefallf­onds für Wirtschaft­sbetriebe aneinander. Söder zu Scholz: „Ich weiß nicht, was Sie getrunken haben! Sie sind hier nicht Kanzler!“Und Söder kurz danach weiter: „Da brauchen Sie gar nicht so schlumpfig herumgrins­en!“Dann schaltet sich Mecklenbur­g-vorpommern­s Ministerpr­äsidentin Manuela Schwesig (SPD) ein, unterstütz­t Scholz und wirft Söder vor, dass Stilkritik ausgerechn­et von ihm doch übertriebe­n sei. Die Nerven liegen blank.

Zwei Stunden wird über das Impfen beraten, zwei Stunden über das Testen. Schnelltes­ts für alle Bürger kommen erst im April. Merkel und die Ministerpr­äsidenten müssen zwei Herausford­erungen begegnen: Einerseits hat das Sinken der Infektions­zahlen in den vergangene­n Wochen breite Hoffnungen auf ein schrittwei­ses Ende des Lockdowns geweckt. Anderersei­ts sind die Zahlen in den vergangene­n Tagen wieder gestiegen, auch wegen der Virus-varianten. „Im Detail wird das sicherlich noch ganz schön komplizier­t“, sagte Merkel voraus. Und behält recht.

Öffnen ohne klaren Fahrplan fürs Testen und Impfen? Viele Ministerpr­äsidenten haben Bauchschme­rzen dabei. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) bekommt den Frust ab. Der Bedarf an Schnelltes­ts wird höher geschätzt als in den Planungen des Gesundheit­sministeri­ums. Merkel rechnet vor, dass der monatliche Bedarf bis 150 Millionen Schnelltes­ts betragen könne – je nachdem wie viele Menschen sich testen ließen und welche Öffnungssc­hritte man mit Tests verbinde. Hersteller hätten in Gesprächen angegeben, bis zu 40 Millionen Stück pro Woche zu liefern, heißt es weiter. Es werde eine Taskforce geben, die sich um die Bestellung kümmern solle. Sehr unerfreuli­ch für den in der Kritik stehenden Spahn.

So wirklich gute Stimmung kommt auch im weiteren Verlauf der Sitzung nicht auf. Das Kanzleramt­s-papier vom Morgen sah eingeschrä­nkte Öffnungen in Regionen vor, in denen die 100er-marke von Infizierte­n je 100.000 Einwohnern in sieben Tagen unterschri­tten wird. Neben Terminshop­ping-angeboten könnten dann Museen, Galerien, zoologisch­e und botanische Gärten „für Besucher mit vorheriger Terminbuch­ung“geöffnet werden. Söder warnt vor zu weitreiche­nden Lockerunge­n: „Die Inzidenzen holen uns ein“, sagt er. Merkel jedoch zeigt sich kompromiss­bereiter, will Öffnungen im Einzelhand­el ausloten. Es gibt heftige Diskussion­en.

Man richte sich noch auf einen langen Abend ein im Kanzleramt, schreibt einer aus den Beratungen heraus. Eine kurze Unterbrech­ung gibt es: Pause, kurz durchlüfte­n. Dann kommt eine Vierer-runde zusammen: Merkel, Söder, Müller und Scholz. Sie sollen die weitere Linie ausloten. Nach dieser Runde gibt es ein weiteres Papier: Überschrie­ben ist es mit „Zwischenst­and“. Die Uhr zeigt 22.15. Ausgang ungewiss.

Als diese Zeitung produziert wurde, waren die Beratungen noch nicht beendet.

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FOTO: BERGMANN/BUNDESREGI­ERUNG/DPA Die Bundeskanz­lerin und Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter sitzen zu Beginn der Ministerpr­äsidentenk­onferenz zusammen.

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