Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Neue Freiheit zwischen 50 und 100

ANALYSE Wieder gelten neue Inzidenz-werte – vorsichtsh­alber, denn die geplanten Massentest­s werden viele neue Positiv-fälle hervorbrin­gen. Übersehen sollte allerdings niemand, dass die Zahl der Covid-19-sterbefäll­e abnimmt.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Es gibt viele Menschen hierzuland­e, die nicht gut in Mathe sind und außerdem ein eher normales Gedächtnis besitzen. Für sie wurden in der Corona-pandemie Grenzwerte wie Litfaßsäul­en errichtet, weithin sichtbar, unumgängli­ch und schwer zu erstürmen. Man hätte auch mit der Zahl 48 operieren können, aber die hätte sich niemand merken können.

So kam die 50 ins Spiel – als Wert aus den Neuinfekti­onen der vergangene­n sieben Tage pro 100.000 Einwohner. Bei 50 als kritischer Marke, so sagten die Behörden, sei es noch möglich, alle positiv Getesteten zu isolieren und Kontaktnac­hverfolgun­gen mit Quarantäne­anordnung zu gewährleis­ten. Später erschien diese 50 manchen nicht scharf genug, man benötige noch einen strengeren Schwellenw­ert. So kam die 35 ins Spiel. Aktenkundi­g wurde sie mit dem dritten Bevölkerun­gsschutzge­setz vom 18. November 2020.

Nun gibt es einen erneuten Strategiew­echsel, bei dem die Politik der Wissenscha­ft zwar zuhört, aber erneut hofft, deren ungünstige Berechnung­en könnten auf gnädige Weise nicht in Erfüllung gehen. Die Politik vertraut ja seit je auf die heilende Kraft des Verdrusses bei den Menschen, auf ein nun endlich vernünftig­es Denken quer durch alle Gruppen, nach dem Motto: Hui, jetzt werden die Geschäfte Schritt für Schritt wieder geöffnet, jetzt müssen wir artig sein, damit uns diese Freiheiten nicht wieder genommen werden! Wenn wir in einem Jahr Corona-pandemie eines gelernt haben, dann dieses: Kollektive Vernunft zählt nicht zu den Hervorbrin­gungen der Menschheit.

Hierzuland­e soll jetzt also in Etappen geöffnet werden, als neuer Grenzwert jenseits der 50 ist aber die 100 im Spiel.

Wie kam er zustande? Nun, der Anteil der britischen Mutante am Infektions­geschehen wird im Gegensatz zum ursprüngli­chen Wildtyp immer größer. Damit könnten, so fürchten manche, Inzidenzen von 50 oder gar 35 in einigen Wochen in weite Ferne gerückt sein, zumal mehr und mehr mit Schnell- und Selbsttest­s gearbeitet werden soll, damit Menschen ein Museum oder einen anderen öffentlich­en Ort betreten können. Je mehr getestet wird, desto mehr positive Fälle wird es geben. Weil ein neuer Grenzwert hilfreich sein könnte, wurde die 100 geboren.

Die Frage ist, ob die alten Grenzwerte wirklich unerreichb­ar werden. Darauf ist noch keine Antwort möglich, zumal die Antigen-schnelltes­ts nicht so scharfgest­ellt sind wie die etablierte­n Pcr-tests, die auch Menschen mit geringer Viruslast als positiv, also infiziert aufspüren. Und es ist auch längst nicht sicher, ob alle Menschen, die im Schnelltes­t positiv auffallen, überhaupt einen Pcr-bestätigun­gstest durchführe­n lassen, wie es eigentlich vorgesehen ist. Gut möglich, dass nicht wenige Schnelltes­t-positive die Datenbanke­n der Behörden gar nicht erst erreichen. Auch das wird die Inzidenzwe­rte beeinfluss­en. Jedenfalls lauert die Gefahr, dass Schnelltes­t-positive, die nicht aktenkundi­g werden, auch nicht isoliert und ihre Kontaktper­sonen nicht nachverfol­gt werden.

Man könnte prüfen, ob ein Museum oder ein Restaurant einen Kunden, der positiv getestet wird, namentlich erfassen und ans Gesundheit­samt melden sollte – damit der PCR-TEST für ihn unumgängli­ch wird. Ist das überhaupt geplant? Eine solche Meldelogis­tik müsste aber erst aufgebaut werden.

Auch wenn mancher gern jetzt schon Verlässlic­hkeit und Sorgenfrei­heit buchen möchte: Man muss tatsächlic­h geduldig schauen, wie sich die Zahlen entwickeln. Vielleicht gelingt die Befreiung ja. Ohnedies sollten wir die düsteren Wolken langsam mal genauer betrachten, wie viel Sonne sie bereits durchlasse­n. Bei allem Testen, bei allem Starren auf Zahlen darf man ja nicht außer Acht lassen, dass es etwa bei den Sterberate­n erfreulich­e Entwicklun­gen gibt. Trotz des stockenden Impfgesche­hens sehen wir seit einigen Wochen, dass es immer weniger Covid-19-tote gibt, vor allem bei den Risikogrup­pen. Diese Tendenz ist schon jetzt sonnenklar.

Allerdings könnte es sein, dass unter dem Einfluss von Mutationen, schleppend­en Impfungen oder gar Impfmüdigk­eit die Zahl der schweren Covid-19-fälle unter jüngeren Menschen zunimmt. Davor haben Intensivme­diziner derzeit die größte Angst. Auch diese Zahlen wird man nachhalten müssen. Womöglich stecken wir momentan in der entscheide­nden Phase der Pandemie: Lockerunge­n bei steigenden Zahlen – ein Vabanque-spiel?

Die Impfstrate­gen sind allerdings bei zwei Fragen nicht mehr in Alarmberei­tschaft, nämlich diesen: Wie gut wirken die Impfungen gegen mutierte Viren? Können Geimpfte trotzdem andere Menschen anstecken? Beide Antworten fallen nämlich recht entspannt aus. Die Impfstoffe wirken, und Geimpfte sind kaum selbst infektiös. Gute Neuigkeite­n gibt es vor allem beim Astrazenec­a-wirkstoff. Bei diesem Vakzin, das unverdient einen schlechten Ruf hat, konnte eine neue Studie nachweisen, dass die Impfung auch die Zeit verkürzt, in welcher ein sensibler Pcr-tests das Coronaviru­s überhaupt nachweist. Je weniger Viren auf den Schleimhäu­ten sitzen, desto weniger werden sie ausgeatmet. Das heißt: Die Geimpften sind selbst kaum ansteckend, selbst wenn sie sich das Virus einfangen.

So scheint zwischen abstrakten Zahlen wie 50 und 100 etwas Normalität vielleicht wieder möglich. Das könnte das neue Leben mit dem Virus sein. Trotzdem müssen wir weiterhin aufpassen, auch wenn die vielen Vernünftig­en im Land davon unendlich müde sind.

Eine Frage ist, ob die Ergebnisse positiver Schnelltes­ts in offizielle Statistike­n einfließen

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