Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Die meisten Bürger sind nicht naiv“

STEPHAN WEIL (SPD) Niedersach­sens Ministerpr­äsident über Ärger mit Lockerunge­n, Planungen für Ostern und das Temperamen­t von Amtskolleg­en.

- JAN DREBES UND JANA WOLF FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Herr Weil, können Sie uns erklären, warum das Infektions­risiko bei einem Friseur geringer sein soll als in einer Modeboutiq­ue oder einem Spielwaren­laden?

WEIL Das Problem besteht darin, dass wir ehrlicherw­eise bei 70 bis 80 Prozent der Infektione­n nicht wissen, woher sie kommen. Jetzt befinden wir uns am Beginn einer Phase, in der wir glauben, trotz hoher Infektions­zahlen auf der Grundlage von klugen Konzepten wieder mehr Öffnungen ermögliche­n zu können. Dabei sind wir dann immer mit dem Problem der Auswahl konfrontie­rt. Diese Auswahl – das kennen wir schon aus dem Frühjahr 2020 – bereitet mitunter fast ebenso viel Ärger wie die Schließung­en.

Warum kommen also Friseure und Buchläden bei den Öffnungen früher dran als die Modegeschä­fte? WEIL Wenn ich die spezifisch­en Infektions­gefahren vergleiche­n soll, werde ich Ihnen keine triftigen Gründe nennen können. Wenn ich aber die Mobilität, die durch den Gang zum Friseur ausgelöst wird, mit der Mobilität beim Besuch von attraktive­n Einzelhand­elsgeschäf­ten in den Innenstädt­en vergleiche, seien es Modegeschä­fte, Spielwaren­häuser oder Elektronik­märkte, dann komme ich insgesamt zu einer anderen Relevanz. Wir können bei unseren Entscheidu­ngen leider keine naturwisse­nschaftlic­hen Lehrbücher zu Rate ziehen, sondern müssen uns die Frage stellen, mit welcher Kontakthäu­figkeit wir rechnen müssen. Dabei müssen die Besuche in den Geschäften selbst, aber auch An- und Abreisen einbezogen werden.

Ostern steht schon bald vor der Tür. Können die Menschen einen Osterurlau­b in Niedersach­en buchen, und dürfen Hotels und Ferienwohn­ungen wieder Gäste empfangen? WEIL Ich kann Ihnen darauf noch keine verlässlic­he Antwort geben. Es ist vorgesehen, dass wir bei der nächsten Bund-länder-runde am 22. März dazu Entscheidu­ngen treffen. Das ist aus meiner Sicht sehr spät, weil die Menschen vorher Pläne machen müssen. Ich setze aber darauf, dass wir bis zum 22. März deutlich mehr darüber wissen, was wir durch neue Testkonzep­te zusätzlich möglich machen können. Solche Konzepte können dann gegebenenf­alls auch eine Grundlage dafür bieten, Ferienwohn­ungen und vielleicht sogar teilweise Hotels zu öffnen.

Bayerns Ministerpr­äsident Markus

Söder hat die Menschen vor einem Oster-lockdown gewarnt. Wie optimistis­ch sind Sie, dass wir den nicht erleben werden?

WEIL Im schlimmste­n Fall hat Herr Söder natürlich recht: Wenn jetzt alle die neuen Möglichkei­ten exzessiv ausreizen, werden die Infektions­zahlen steigen und Einschränk­ungen notwendig sein. Aber die meisten Bürger sind nicht naiv und aus guten Gründen vorsichtig. Darauf setzen wir.

Ist die Corona-warn-app als Waffe in der Pandemiebe­kämpfung gescheiter­t?

WEIL Die Warn-app hat längst nicht die Erwartunge­n erfüllt, die in sie gesetzt wurden. Das ist offenkundi­g.

Könnte es mit der neuen Luca-app besser laufen?

WEIL Ja, das hoffe ich sehr. Wir müssen jetzt ein System aufbauen, in dem man sich an vielen Stellen testen lassen kann. Wenn das hoffentlic­h für zwölf oder vielleicht sogar für 24 Stunden gültige Testergebn­is dann elektronis­ch gespeicher­t wird, könnte das als Eintrittst­icket für Kinos, Restaurant­s oder Veranstalt­ungen sein. Ein solcher zusätzlich­er Schutz könnte uns enorm helfen, bis ein ausreichen­d großer Teil der Bürgerinne­n und Bürger geimpft ist.

Niedersach­sen ist eines der Schlusslic­hter beim Impfen. Welche Fehler haben Sie gemacht?

WEIL Die Impfungen sind in Niedersach­sen jetzt richtig angelaufen, wir sind jetzt bei 25.000 Impfungen am Tag. Diese Zahl wird sich auch noch deutlich steigern. Aber ich will nicht davon ablenken, dass wir Fehler gemacht haben. Erstens hatten wir keine Online-warteliste parat, als Impfstoff erstmals verfügbar wurde. Zweitens haben wir den Menschen zunächst angeboten, sich das Impfzentru­m auszusuche­n. Weil die

Menschen an ihrem Wunschort aber nicht immer Erfolg hatten, setzte ein wilder Impftouris­mus ein, der die Hotline zusätzlich belastet hat. Und vor allem wurden alle Hochbetagt­en gleichzeit­ig angesproch­en, und das hat eine entspreche­nde Resonanz ausgelöst. Inzwischen bin ich deutlich zufriedene­r.

Wo sehen Sie Verbesseru­ngsbedarf? WEIL Es kann nicht sein, dass die Impfzahlen an den Wochenende­n deutlich nach unten gehen, wenn noch Impfstoff da ist. Entspreche­nde Vorkehrung­en sind jetzt getroffen worden.

Aus der Ministerpr­äsidentenk­onferenz sind verbale Attacken von Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder gegen Finanzmini­ster Olaf Scholz überliefer­t. Hat Herr Söder seine Nerven verloren?

WEIL Olaf Scholz hat sie wenigstens behalten. Es ist sehr unterschie­dlich, wie man sich in solchen Runden verhält. Aber wir sind alle Menschen. Ich war an dem Tag beispielsw­eise 15,5 Stunden ununterbro­chen in Videokonfe­renzen. Da finde ich es normal, wenn in Stresssitu­ationen auch mal eine Hutschnur reißt.

Welche Rückschlüs­se ziehen Sie daraus für die Kanzlerfäh­igkeit von Herrn Söder, wenn er in solchen Runden ruppig wird?

WEIL Keine, jeder handelt nun mal seinem Naturell und Temperamen­t entspreche­nd. Ich finde, dass Herr Söder aus politische­n Gründen für eine Kanzlersch­aft ausscheide­t.

Wie durchsetzu­ngsfähig ist die Bundeskanz­lerin noch? Immerhin hatte sie sich stark für die Sieben-tage-inzidenz von 35 eingesetzt, die nun zerbröselt wurde.

WEIL Natürlich hat die Bundeskanz­lerin weiterhin ein sehr hohes politische­s Gewicht. Aber die Minister

präsidente­nkonferenz zeichnet sich dadurch aus, dass wir Beschlüsse gemeinsam fassen. Dazu gehört auch der vom vorletzten Mal, als die 35 im Ergebnis stand. Das war ein Fehler, und ich bin froh, dass wir uns jetzt wieder davon auch gemeinsam verabschie­det haben und wieder die 50 als Zielwert nutzen. Jetzt sind wir wieder im Einklang mit dem Infektions­schutzgese­tz.

Die SPD hat mit ihrem zuletzt vorgestell­ten Entwurf für ein Wahlprogra­mm einen deutlichen Linksschwe­nk vollzogen. Wie wollen Sie damit die heiß umkämpften Merkel-wähler für sich gewinnen?

WEIL Viele Menschen haben noch gar nicht verinnerli­cht, dass Angela Merkel aufhören wird. Das ist kein Wunder, weil sie in dieser Krisenlage sehr präsent ist. Aber ich bin sicher, die wichtigste Frage im Wahlkampf wird sein: Wer ist der beste Kanzler oder die beste Kanzlerin? Und eines werden die wenigsten bestreiten: Olaf Scholz kann Kanzler! Auch das vorgelegte Wahlprogra­mm der SPD stammt maßgeblich von ihm. Programm und Kandidat passen exzellent zusammen. Das ist eine gute Grundlage für die anstehende­n Diskussion­en.

Sie sind Bruce-springstee­n-fan. Welchen Song hören Sie am liebsten von ihm, seit Sie am Donnerstag wegen eines Corona-falls im Mitarbeite­rstab in Quarantäne gehen mussten?

WEIL „The Rising“. Macht gute Laune und lässt mich an künftige Umfragewer­te der SPD denken.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany