Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wir brauchen die Woche der Brüderlich­keit

Auch in der Corona-pandemie ist es wichtig, die Erinnerung an die Gräueltate­n zu erinnern, die die jüdische Gemeinde früher erleben musste. Die Woche der Brüderlich­keit ist dazu der perfekte Anlass.

- STEFAN SÜHLING IST LEITENDER PFARRER AN ST. NIKOLAUS IN WESEL.

Mitten in der Aufregung um Corona-lockerunge­n und Impfstrate­gien steht uns am Sonntag der Beginn der Woche der Brüderlich­keit ins Haus. Eine vergleichs­weise unbekannte – und man möchte fast meinen gerade in diesem Jahr auch verzichtba­re – Woche. Die Woche der Brüderlich­keit, seit 1952 initiiert von den Gesellscha­ften für christlich-jüdische Zusammenar­beit, versucht die enge, verwandtsc­haftliche Verbundenh­eit des Judentums mit dem Christentu­m ins Bewusstsei­n zu heben.

Das diesjährig­e Motto „…zu Eurem Gedächtnis: Visual History“wirft ein Schlaglich­t auf das zentrale Anliegen für unsere Stadt Wesel – nicht nur in der Woche der Brüderlich­keit. Es geht dabei im wahrsten Sinn des Worts darum, die Geschichte im Gedächtnis zu behalten. Die Stimme der Augenund Ohrenzeuge­n, jene, welche die Ereignisse von der anfänglich­en Ausgrenzun­g bis hin zur offenen Anfeindung, Vertreibun­g und Deportatio­n in die Vernichtun­gslager miterlebt haben, ist verstummt. Nun ist es an uns, die Erinnerung wach zu halten, durch

– um nur ein Beispiel zu nennen – weitere Stolperste­ine in den Straßen unserer Stadt, die Lebensorte aus der Stadt vertrieben­er jüdischer Mitbürger markieren.

Das alles zum ohnehin schon nervenzehr­enden Pandemie-alltag hinzu? Muss nicht irgendwann Schluss sein mit der Erinnerung an schon so lange vergangene­s? Ich meine Nein! Wir brauchen die Erinnerung an die schrecklic­hen Taten, zu der die Menschen in unserer Stadt, in unserem ganzen Land, fähig waren. Wir brauchen die Erinnerung an die Gräuel, die Menschen anderen antun können als Wahrnehmun­gssensoriu­m für die Ereignisse in unserer Gegenwart und für die Gestaltung unserer gemeinsame­n Zukunft.

Wenn heute Schuldige gesucht, Menschen wegen ihres Glaubens, ihrer Kultur, ihres Aussehens oder ihrer Sexualität ausgegrenz­t oder verächtlic­h gemacht werden, schrillen hoffentlic­h die Alarmglock­en der erinnerten Geschichte. Wir brauchen die Woche der Brüderlich­keit, wir brauchen die lebendige Erinnerung, in diesem Jahr und im nächsten Jahr wieder – dann hoffentlic­h auch mit Veranstalt­ungen, die dem gemeinsame­n Erinnern dienen.

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