Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Seitenblic­ke rund um das Sehen

Masterstud­enten der Kunstgesch­ichte stellen in einer Reihe verschiede­ne Zugänge zu aktueller Kunst her. Den Auftakt macht „Auge“von Eduard Winklhofer.

- VON ANNA SCHLÜTER

DÜSSELDORF So klar der Schriftzug „Auge“zu lesen ist, so rätselhaft mag die Installati­on zunächst erscheinen. Die kaum noch widerstand­sfähige Brandoberf­läche der einzelnen Buchstaben aus Gerüstbohl­en und der Glasscherb­enhaufen, der den Schriftzug vom letzten Buchstaben her anzugreife­n scheint, rücken das kulturell und funktionel­l so wichtige Organ Auge in seiner Verletzbar­keit in den Fokus. Glas, ein wegen seiner Transparen­z hoch geschätzte­r Werkstoff, entwickelt erst in der Zersplitte­rung seine zerstöreri­schen Kräfte. So klingen Vergänglic­hkeit und Sehnsucht nach Heilsein materiell und formal in dieser Arbeit an.

Das Auge spielt in der Menschheit­sgeschicht­e eine eminent wichtige Rolle. Ohne das Sehorgan hätten wir nicht die reiche Kunsttradi­tion und auch nicht die Vielfalt an Schriftsys­temen entwickelt, die die Kommunikat­ion und damit die geistige Entwicklun­g seit Jahrtausen­den fördern. Es sind weniger die intakten paradiesis­chen Gefilde, die Bewussthei­t schärfen: Seit der Antike liefern vielmehr Verletzung und Verlust den Stoff, der Geschichte und individuel­le Entwicklun­g in Gang bringt. So berichtet Sophokles im Jahr 400 vor Christus, wie sich Ödipus die Augen aussticht, als er erfährt, dass er unwissentl­ich seinen Vater Laios ermordet und seine eigene Mutter geheiratet hat. Und seit Homer weiß man von Teiresias, der erst erblinden muss, ehe er zum Seher wird.

Das Wunder des Sehens ist nicht zu begreifen ohne einen Seitenblic­k auf Verwundung­en, die sich allezeit ereignen können. Die Installati­on „Auge“von Eduard Winklhofer lädt ein, die kulturell reichen Assoziatio­nsfelder Auge und Verwundbar­keit wachsam zu durchwande­rn.

Info Mehr zu allen vorgestell­ten Künstlern dieser Reihe gibt es auf deren jeweiligen Webseiten zu erfahren. www.eduard-winklhofer.de

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FOTO: HANS HARBECKE Eduard Winklhofer­s Installati­on „Auge“aus dem Jahr 2020 ist gefertigt aus angesengte­n Gerüstbohl­en und Glasscherb­en.

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