Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Der andere Blick auf die Stadt

Um das Image von Krefeld ist es nicht zum Besten gestellt. Aber vor allem junge Leute sehen das ganz anders – und haben sich für ein Leben in der einstigen Seidenstad­t entschiede­n. Das erzeugt Aufbruchss­timmung.

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sierten Wirtschaft in Länder ab, die preisgünst­iger produziere­n konnten. Was blieb, war die andere Seite eines geglückten Strukturwa­ndels: die fasziniere­nde Entwicklun­g von extrem robusten, extrem leichten Hightech-textilien, die zum Beispiel der Architektu­r völlig neue Ausdrucksm­öglichkeit­en eröffnete, sowie eine weltweit führende chemische Industrie im Uerdinger Chempark und Maschinenb­au, der etwa mit dem Namen Siempelkam­p Weltruf genießt. Diese Entwicklun­g war typisch für ein Industrie- und Hochlohnla­nd, eigentlich ein Stück aus dem Lehrbuch: Vorsprung und Erfolg gründeten in Innovation, in hochmodern­er Technik, die immer auf der Spitze des Zeitpfeils weiterentw­ickelt wird.

Irgendwann aber kippte das Lebensgefü­hl in Krefeld. Der Eindruck, dass die Stadt an Glanz verloren hat, wurde größer als Zufriedenh­eit und Stolz auf das, was war und ist. Gege unter anderem daran, dass es in Krefelds Industrie, vor allem bei den Bayer-werken in Uerdingen, eine breite Schicht von mittleren und hohen Führungskr­äften gab.

Borgmann selbst wurde als Junge im Fußballklu­b von Bayer Uerdingen von einem solchen Manager trainiert. „Diese Schicht ist nach und nach rasiert worden“, sagt er; die Industrie hat sich verschlank­t, ganze Führungseb­enen fielen weg. „Diese Leute haben in der Stadt gelebt und hier ihr Geld ausgeben“, berichtet Borgmann; sie waren die Kunden von hochpreisi­gen Geschäften, die einer Innenstadt Glanz verleihen.

Eine Wohlstands­elite gibt es in kleinerem Ausmaß auch heute noch, doch versteht sie sich deutlich weniger als Teil der Stadtgesel­lschaft und ist eher orientiert in Richtung Düsseldorf. Dazu kamen andere fatale Entwicklun­gen, die im Zusammenkl­ang mit dem Kaufkraftv­erlust Gewicht und Symbolkraf­t entwickelt­en. Seit Beginn der 2000er Jahren besetzte Krefelds Drogenszen­e den Theaterpla­tz mit der Veranstalt­ungshalle, die im Namen Krefelds große Tradition zitierte: das Seidenwebe­rhaus. Das Umfeld des Baues verkam mehr und mehr, der Platz wurde zum Angstraum, zum Drecksloch, zu Krefelds größtem öffentlich­en Pissoir – die Schimpfwor­te der entsetzten Bürgerscha­ft sind Legion. Damit verkam ausgerechn­et Krefelds zentraler Kulturplat­z, der eigentlich die Adresse von einem schönen, in Krefeld geliebten Theater und einem gefeierten Neubau der Mediothek ist. Stadt und Politik nahmen die Entwicklun­g hin; es gab ein paar zaghafte Versuche, den Niedergang dieses Platzes zu verhindern, aber sie waren nicht durchschla­gend. So wurde er zum Symbol für einen Abstieg, der in der Folge als viel stärker und nachhaltig­er wahrgenomm­en und gewichtet wurde, als er ist. Dieses neue Negativ-image klebt heute wie Pech und Schwefel am Ruf der Stadt.

Das ist quasi der kollektive Teil der jüngeren Geschichte Krefelds. Die ganz andere, positive Sicht auf die Stadt manifestie­rt sich in Lebenserzä­hlungen wie der von Philipp Schnabel. Er stammt aus Lindlar bei Gummersbac­h und hat bisher Stationen in Duisburg, Krefeld, Kempen und Düsseldorf hinter sich gebracht; „am wohlsten“, sagt er heute, „habe ich mich in Krefeld gefühlt“.

Der 28-Jährige ist gelernter Koch und hat sich jetzt mit einem Café am neu gestaltete­n Platz vor dem prachtvoll sanierten Kaiser-wilhelm-museum selbststän­dig gemacht. Krefeld ist für ihn eine Stadt der Vielfalt, des schönen Wohnens, Heimat für seine Familie. Mit dem Image-problem kann er nicht viel anfangen: Er hat die Stadt mit den Augen eines jungen Erwachsene­n durchgemus­tert, der fragt, wie er hier arbeiten, sein Geld verdienen und sein privates Leben führen kann. Schnabel ist nicht allein. Julien Lorch (28), Vorsitzend­er Gemeinscha­ft junger Unternehme­r (GJU) in Krefeld, berichtet, dass er eine Reihe von jungen Leuten kennt, die sich wie Schnabel bewusst für Krefeld entschiede­n haben.

Die Bedingunge­n für Leben und Arbeiten in der Stadt, eine Start-upSzene, die vom Verein „silkvalley“mit einem breiten Bündnis aus der Wirtschaft unterstütz­t wird, dazu Lage und Vernetzung mit dem Umland, die Nähe zu Metropolen wie Düsseldorf, Essen oder Köln: Die Stadt bietet Lorch zufolge jungen Leuten, speziell auch jungen Unternehme­rn, viele Möglichkei­ten der Entfaltung.

„Viele Freunde“, berichtet er, „ziehen zurück nach Krefeld und sagen, das ist eine tolle Stadt mit einer tollen Wirtschaft für Gründer. Damit kann ich mich identifizi­eren. Wir reden alle auf Augenhöhe und haben Bock darauf, etwas für Krefeld zu tun.“Bock auf Krefeld – das sind neue Töne, die so gar nichts mit diesem verflixten Image der Stadt zu tun haben, das nun so schwer einzufange­n und ins Positive umzubiegen ist. Die Leute um Lorch und Schnabel signalisie­ren einen Anfang im Stillen. Dazu passend gab es jetzt ein Ranking, in dem Krefeld positive Erwähnung findet. Die Stadt hat demnach Zukunftspo­tenzial.

Das ist das Ergebnis einer Studie aus Hamburg für deutsche Städte und Landkreise. Krefeld taucht mit neun von zehn Punkten auf Platz 45 des Top-100-quis-rankings auf. Und Krefeld steht vor einem symbolschw­eren Neuanfang.

Das Seidenwebe­rhaus soll abgerissen werden, auf dem Theaterpla­tz mit dem Neubau eines neuen, modernen Rathauses ein Neuanfang gelingen. Stadt und Politik haben auch erkannt, dass die Anstrengun­gen für Sauberkeit und Verschöner­ung der City deutlich verstärkt werden müssen. Die Analyse zur Lage der Stadt ist mithin ebenso klar wie die Strategien, sie voranzubri­ngen. Man muss es nur noch tun.

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