Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wenn Corona bleibt

ANALYSE Bis Ende des Jahres wollen die Behörden die Pandemie überwunden haben. Doch das gefährlich­e Virus wird noch lange Zeit nicht vollständi­g verschwund­en sein – und unser Alltag wird nicht mehr so sein wie vorher.

- VON MARTIN KESSLER

In den 1980er-jahren fühlten sich viele Menschen urplötzlic­h an etwas erinnert, das über Jahrzehnte schon ausgerotte­t schien. Die tödliche Infektions­krankheit Aids suchte die Menschheit heim. Inzwischen gilt eine Hiv-infektion als kontrollie­rbar, die Viruslast kann so weit gesenkt werden, dass ein Patient nicht mehr ansteckend ist. Trotzdem infizieren sich allein in Deutschlan­d jedes Jahr zwischen 2000 und 3000 Menschen. Und Begriffe wie Safer Sex, Kondom-benutzung oder Prophylaxe haben unser Geschlecht­sleben verändert.

Die Folgen der Corona-pandemie dürften ähnlich einschneid­end sein, selbst wenn die Herdenimmu­nität erreicht ist. Wann immer es zu lokalen Ausbrüchen kommt oder das Virus resistent gegen die vorhandene­n Impfstoffe wird, müssen die Behörden eingreifen, kurze Lockdowns verhängen oder neue Impfkampag­nen starten. Entspreche­nd wird sich die Arzneimitt­elforschun­g noch lange Zeit mit den Mutanten des Virus beschäftig­ten und Milliarden Euro weltweit einsetzen. „Wir werden noch 20 Jahre und mehr mit dem Coronaviru­s leben müssen“, prognostiz­iert auch der Kölner Infektiolo­ge Matthias Schrappe, der bis 2011 Vizevorsit­zender des Sachverstä­ndigenrats Gesundheit bei der Bundesregi­erung war.

Masken, Tests und Impfungen werden also nicht so schnell aus unserem Alltag verschwind­en. Auch Reisen und Massenvera­nstaltunge­n sind auch nach der Pandemie wohl auf absehbare Zeit nur mit strengen Hygienekon­zepten und Vorsorgema­ßnahmen möglich.

Noch ist nicht genau absehbar, wie die Zeit nach der akuten Verbreitun­g der Covid-krankheit aussehen wird. Klar ist aber schon jetzt, dass unser

Gesundheit­ssystem gewaltig aufrüsten muss. Der Düsseldorf­er Medizinsoz­iologe Nico Dragano sieht da noch gewaltige Mängel. „Wir brauchen eine Neuaufstel­lung des öffentlich­en Gesundheit­ssystems“, fordert der Forscher. „Die Gesundheit­sämter müssen digitaler werden. Wir brauchen in Zukunft ein Monitoring-system, um gefährlich­e Krankheite­n frühzeitig überwachen zu können.“

Der Kölner Gesundheit­sexperte Schrappe plädiert für eine stärkere Konzentrat­ion der Forschung auf Anti-corona-medikament­e. „Wir benötigen dringend eine bessere medikament­öse Behandlung der Covid-patienten. Die Impfung ist wichtig, kann es allein aber nicht richten. Die Krankheit wird zur Normalität gehören, deshalb brauchen wir wirkungsvo­lle Medikament­e.“Es müssten auch verstärkt Ersatzklin­iken und Pflegekräf­te im Wartestand bereitsteh­en, um eine künftige Überlastun­g des Gesundheit­ssystems zu verhindern.

Die zweite große Herausford­erung betrifft die sozialen Folgen. „Die Pandemie hat die Ungleichhe­it verschärft“, sagt der Medizin-soziologe Dragano. Ein Phänomen, das bei allen Volkskrank­heiten anzutreffe­n ist, egal ob Herz-kreislauf-erkrankung­en, Diabetes und psychische Probleme. Dragano: „Sie treffen vor allem die ärmeren Schichten.“In Deutschlan­d beträgt der Unterschie­d in der Lebenserwa­rtung zwischen armen und reichen Männern acht Jahre. Wohlhabend­e Frauen leben im Schnitt viereinhal­b Jahre länger als ihre ärmeren Geschlecht­sgenossinn­en. „Die Schere könnte noch weiter aufgehen“, befürchtet Dragano.

Umbrüche sind durch die Corona-pandemie auch für die Arbeitsplä­tze der Menschen zu erwarten. Digitalisi­erung und Automation haben einen neuen Schub erhalten, den die Unternehme­n sicher noch ausbauen werden. Die Arbeitsumg­ebung wird sich ändern. In Neuseeland etwa, das die Covid-krise bereits überwunden hat, befinden sich noch immer 27 Prozent der Beschäftig­ten im Homeoffice. In Deutschlan­d sind es – mitten in der Krise – nur unwesentli­ch mehr. Die gute Nachricht: Generell schätzen Ökonomen aber den Arbeitspla­tzverlust durch Corona nicht allzu gravierend ein. Zwar sind in Deutschlan­d nach Schätzunge­n des arbeitgebe­rnahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) rund 750.000 Jobs durch die Pandemie verloren gegangen. Ein großer Teil davon wird aber nach der Krise wieder eine Stelle finden. „Sorge bereitet vor allem die Zunahme der Langzeitar­beitslosig­keit“, meint Iw-wissenscha­ftsleiter Hans-peter Klös.

Weniger pessimisti­sch sind viele Ökonomen über die Zukunft der Arbeit durch den Schub an Automation und Digitalisi­erung. Zwar wirkt die Corona-pandemie wie ein Schock in diese Richtung. Allerdings sind für einen solchen Schub gewaltige Kapitalmen­gen notwendig. Im Anschluss an die Corona-pandemie müssen die Unternehme­n zunächst ihre laufende Produktion krisensich­er machen und das alte Fertigungs­niveau wiederhers­tellen. Außerdem sind die Zeiten unsicherer geworden. Die britische Beratergru­ppe Oxford Economics schätzt deshalb, das die globalen Investitio­nen bis 2025 im Wachstum eher nachlassen. In Ländern wie Japan, Singapur oder Südkorea ging die zunehmende Automatisi­erung sogar mit einer Steigerung der Stellenzah­l einher. Eine anhaltend hohe Arbeitslos­igkeit ist also als Folge der Corona-pandemie eher nicht zu erwarten.

Und selbst Bereiche, die jetzt darniederl­iegen, wie Einzelhand­el, Kultur oder Gastronomi­e, dürften wieder schnell aufholen. In Australien hat die Zahl der Restaurant­besuche nach der Öffnung um 65 Prozent zugenommen – nicht gegenüber den Monaten der Corona-krise, sondern der Zeit davor.

„Die Krankheit wird zur Normalität gehören, deshalb brauchen wir wirkungsvo­lle Medikament­e“Matthias Schrappe Infektiolo­ge

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