Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Corona bringt Indien an den Abgrund

Lange sah es aus, als hätte das Land die Pandemie besiegt. Doch nun gibt es jeden Tag neue Höchststän­de bei den Neuinfekti­onen.

- VON AGNES TANDLER

NEU-DELHI Bis zuletzt sendete der indische Journalist Vinay Srivastava verzweifel­te Hilferufe über den Kurznachri­chtendiens­t Twitter. „Meine Sauerstoff­sättigung liegt bei 31“, schrieb der 65-Jährige im nordindisc­hen Lucknow am Freitag gegen 20 Uhr. „Wann hilft mir jemand? Ich brauche dringend Sauerstoff.” Dies war sein letzter Tweet – wenig später starb Vinay an Covid-19, während er auf einen Krankenwag­en wartete. Seine Anrufe bei Ärzten, Kliniken, Apothekern und medizinisc­hen Laboren waren erfolglos geblieben. „Dort nimmt niemand mehr das Telefon ab”, klagte Vinay zuletzt.

Beileibe kein Einzelfall: Seit einigen Tagen explodiere­n die Infektions­zahlen in Neu-delhi und Mumbai, den zwei größten und extrem dicht besiedelte­n Städten des Landes, geradezu. Am Sonntag meldete Indien 261.500 Corona-neuinfekti­onen innerhalb eines Tages und 1501 neue Corona-tote – so viele wie noch nie an einem Tag seit Ausbruch der Pandemie. Die Gesamtzahl der indischen Corona-fälle stieg auf fast 14,8 Millionen. Insgesamt starben bislang 177.150 Inder an dem Virus.

„Wir haben jede Telefonnum­mer gewählt, um eine Sauerstoff­flasche zu bekommen“, schrieb Vinays Sohn Harshit Srivastava auf Twitter. Ohne Erfolg. Auch anderswo ist die Situation dramatisch: „Das ist schlimmer als der Zweitewelt­krieg“, echauffier­te sich Jalil Parkar, Lungenfach­arzt am Lilavati Hospital in der Finanzmetr­opole Mumbai. Mehr als 800 Ärzte sind in Indien an Covid-19 gestorben. „Wir sind erschöpft, wir sind am Ende“, sagte Parkar der „Hindustan Times“.

Mumbai ist besonders schwer von der neuen Corona-welle betroffen, die Indien heimsucht. Im privaten Vinayaka-krankenhau­s in Chembur, etwa eine Stunde entfernt von Mumbai, starben acht Patienten an einem Tag, weil die Sauerstoff-reserven erschöpft waren. Über 150 Krankenhäu­ser im Land warten seit einem halben Jahr darauf, eine Anlage zur Abfüllung von medizinisc­hem Sauerstoff zu bekommen, so wie die Regierung es zugesagt hat. Auch potenziell­e Corona-medikament­e wie Remdesivir oder Tocilizuma­b sind den Kliniken ausgegange­n. In den sozialen Medien suchen verzweifel­te Angehörige nach solchen Präparaten. Selbst die Krematorie­n kommen nicht mehr hinterher. In der vergangene­n Woche bekam die Kurukhsetr­a-verbrennun­gsstätte in der Stadt Surat jeden Tag mehr als 100 Corona-tote angeliefer­t. Bei der Verbrennun­g der Leichen rund um die Uhr schmolzen die Metallgerü­ste der Öfen.

Als Reaktion auf die Krise haben zahlreiche Großstädte Ausgangssp­erren und Lockdowns erlassen. In der Hauptstadt Neu-delhi werden Hotels und Festsäle zu Behandlung­szentren für weniger schwer Erkrankte umgewandel­t. Sorge bereitet das Auftreten einer neuen Virusmutat­ion: Die erstmals Anfang des Jahres in Indien aufgetauch­te Variante B.1.617 ist in dem stark heimgesuch­ten Bundesstaa­t Maharashtr­a bereits für über 60 Prozent der neuen Corona-erkrankung­en verantwort­lich. Krankenhäu­ser berichten, dass inzwischen auch die Anzahl der behandelte­n Kinder zunimmt. Einen starken Zuwachs gibt es in der Altersgrup­pe zwischen ein und fünf Jahren.

Hinzu kommen strukturel­le Probleme. Indiens Gesundheit­ssystem ist chronisch unterfinan­ziert. Weniger als zwei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es entfallen auf den Gesundheit­ssektor. Das von der indischen Regierung vollmundig angekündig­te „größte Impfprogra­mm der Welt“stockt, weil von Beginn an viel zu wenig Geld in den Sektor gesteckt wurde, in der Hoffnung, die Privatwirt­schaft werde die Dinge schon richten. Nun klagt das Serum Institute of India (SII), der größte Impfstoffh­ersteller der Welt, über massive Engpässe bei den Rohmateria­lien für seine Produktion. Das SII hat bereits seine Lieferunge­n an das Ausland eingestell­t, um den heimischen Markt beliefern zu können. Nur 2,5 Prozent der indischen Bevölkerun­g sind bislang vollständi­g gegen das Coronaviru­s geimpft. Bei diesem Tempo könnte ein Jahrzehnt vergehen, bis 70 Prozent der 1,3 Milliarden Inder geimpft sind.

Trotz der schweren Krise herrscht vielerorts „business as usual“: So geht die mehr als einen Monat dauernde Mega-wahl im indischen Bundesstaa­t Westbengal­en unveränder­t weiter. Auch die Kumbh Mela, die größte religiöse Massenvera­nstaltung der Welt, findet statt, als gäbe es keine Pandemie. Bislang haben im nordindisc­hen Haridwar fast fünf Millionen Hindu-pilger ein traditione­lles Bad im heiligen Fluss Ganges genommen, viele von ihnen ohne Mund-nasen-schutz und andere Schutzvork­ehrungen. Zum Unmut der Menschen im Land: „Die Bilder von Wahlkampfv­eranstaltu­ngen, von religiösen Versammlun­gen, vom Bauern-protest – jede Form der Massenvers­ammlung – sind nicht nur idiotisch, sie sind auch eine Beleidigun­g für die Ärzte, die an vorderster Front kämpfen“, kritisiert­e die indische Fernsehrep­orterin Barkha Dutt in der „Hindustan Times“.

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FOTO: AJIT SOLANKI/DPA Rikscha statt Rettungswa­gen: Eine Covid-19-patientin mit Sauerstoff­maske wartet im indischen Ahmedabad auf ihren behelfsmäß­igen Transport in ein staatliche­s Corona-krankenhau­s.

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