Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Neue Liebe mit Grenzen
ANALYSE Bekämpft, beneidet, arrangiert: Die Grünen und die deutsche Wirtschaft sind sich über die Jahre nähergekommen. Topmanager loben sogar das Spitzenpersonal. Wenn da nicht die radikale Basis wäre.
Am Anfang stand der Kampf. Im erbitterten Streit gegen Atomkraft und Umweltverschmutzung wurden die Grünen groß. „Die Luft war voller Blei und Ruß, der Regen sauer. Aus dem Protest gegen diesen Zeitgeist entstand die grüne Bewegung“, schreiben die Grünen über sich selbst. „Wut über die staatstragende Atomclique war treibende Kraft der Proteste in Wyhl, Brokdorf und Wackersdorf.“Doch inzwischen hat sich die Atmosphäre zwischen den Grünen und der Wirtschaft deutlich entspannt.
Die Grünen haben das Land verändert, heute ist jeder für Umweltschutz. Auch das Spitzenpersonal ist hochangesehen. Zu öffentlichen Debatten laden Wirtschaftsverbände mittlerweile lieber die Grünen-chefs als Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ein. Und die Aussicht, dass Deutschland künftig womöglich schwarz-grün regiert wird, bringt die Unternehmenslenker nicht mehr um den Schlaf – wenn da nicht die Basis wäre.
„Auch bei den Grünen gibt es viele kluge Menschen, wie Annalena Baerbock oder Robert Habeck, und kaum noch Fundamentalisten“, sagt Rolf Martin Schmitz, Chef des Energiekonzerns RWE, mit dem die Grünen besonders heftig die Klingen kreuzten. Dass Baden-württemberg, die Herzkammer des deutschen Mittelstands, erneut den Grünen Winfried Kretschmann zum Ministerpräsidenten macht, ist ebenfalls kein Zufall. „Winfried Kretschmann ist eine beeindruckende Persönlichkeit und füllt sein Amt sehr souverän aus. Ich kann mir Schwarz-grün sogar im Bund vorstellen“, sagte Unternehmerin Nicola Leibinger-kammüller schon 2019.
Der Ausstieg aus Kohle und Atomkraft ist vereinbart, Klimaschutz schreibt sich fast jeder auf die Fahnen. Für die Industrie wird er sogar ökonomisch zwingend. Denn Investoren haben ihre Anlagepolitik radikal verändert und nötigen Konzerne zu Nachhaltigkeit. Der mächtige norwegische Staatsfonds steigt ebenso wie die Allianz aus der Kohlefinanzierung aus. Das zwingt Energie-, Chemieund Stahlkonzerne, sich für eine Welt ohne Co2-ausstoß zu rüsten.
„Für die Unternehmen geht es beim Klimaschutz schon lange nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie. Beim Ob ziehen Wirtschaft und Grüne längst an einem Strang“, sagt Holger Lösch, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI). Auch mit ihrer Forderung nach viel mehr Investitionen für Digitalisierung und Bildung stoßen die Grünen bei Unternehmen und Gründern auf offene Ohren.
Doch die neue Liebe kennt auch Grenzen. Nämlich dort, wo es um den konkreten Weg in die klimaneutrale Zukunft geht. „Beim Wie liegen wir an vielen Stellen auseinander: Für die Wirtschaft ist die entscheidende Frage, wie man Klimaschutz, Wachstum und Beschäftigung effizient und wettbewerbsfähig organisieren kann“, sagt BDI-EXperte Lösch. Die grüne Programmatik präferiere stark die ökologische Säule der Nachhaltigkeit gegenüber der ökonomischen.
Hinzu kommt die Frage, wie die Spitzengrünen mit dem Druck ihrer oft radikaleren Basis umgehen. Man erinnere sich an den Kampf um den Kohleausstieg in Nordrhein-westfalen, bei dem die Grünen sich weder so recht an ihre eigene Leitentscheidung zum Tagebau Garzweiler noch an den Kompromiss der Kohlekommission erinnern wollen.
Die Spannung zwischen Spitze und Basis kann vor allem beim Staatsverständnis zum Problem werden. „Auf der einen Seite gibt es viele Spitzenpolitiker der Grünen, die ökonomischen und technologischen Themen gegenüber aufgeschlossen sind. Auf der anderen Seite sind die Grünen traditionell auch ihrem zivilgesellschaftlichen Vorfeld verpflichtet, wo es teilweise tiefes Misstrauen gegen Marktwirtschaft und Wachstum gibt“, sagt Bdi-experte Lösch. Das zeige sich auch in der Programmatik: Auf der einen Seite gebe es einen technologieoffenen Leitantrag der Bundestagsfraktion zur Industrie. Auf der anderen Seite gebe es das Wahlprogramm der Grünen mit seinem deutlichen Hang zu staatlicher Steuerung.
Zwar wollen die Grünen den Deutschen nicht mehr einen Veggie-day verordnen, aber ohne ein Tempolimit dürfte es keine Koalition mit ihnen geben, auch wenn das nun freundlicher „Sicherheitstempo“heißt: „Für die Autobahnen wollen wir ein Sicherheitstempo von 130 Stundenkilometern“, so das Wahlprogramm zur Bundestagswahl. Zudem versprechen die Grünen dort viele Wohltaten, die durch Steuermehreinnahmen finanziert werden sollen. So wollen die Grünen Gutverdiener stärker besteuern: „Ab einem Einkommen von 100.000 Euro für Alleinstehende und 200.000 Euro für Paare wird eine neue Stufe mit einem Steuersatz von 45 Prozent eingeführt. Ab einem Einkommen von 250.000 beziehungsweise 500.000 Euro folgt eine weitere Stufe mit einem Spitzensteuersatz von 48 Prozent.“Zudem fordern die Grünen eine Vermögensteuer: „Die Vermögensteuer sollte für Vermögen oberhalb von zwei Millionen Euro pro Person gelten und jährlich ein Prozent betragen.“Das besorgt mittelständische Unternehmen.
Doch die Wirtschaft setzt darauf, dass man am Ende zu professionell ausgehandelten Kompromissen kommt. Als professionell wird auch die grüne Kandidatenkür bewertet. Das ist umso wichtiger, als sich die Partei Ludwig Erhards gerade ganz anders präsentiert: Die Union enttäuscht viele in der Wirtschaft – mit ihrem Machtkampf wie mit der Pandemie-bekämpfung.
„Auch bei den Grünen gibt es viele kluge Menschen und kaum noch Fundamentalisten“Rolf Martin Schmitz RWE-CHEF