Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wo Kanada wirklich wild und einsam ist

Wohl kaum ein Land verbinden Reisende so sehr mit schier unendliche­r Weite und unberührte­r Natur wie Kanada. Unser Kenner hat acht Tipps abseits der touristisc­hen Trampelpfa­de für die Zeit nach Corona.

- VON OLE HELMHAUSEN

Die berühmten Nationalpa­rks in den kanadische­n Rocky Mountains waren schon vor Corona teilweise total überlastet. Nach der Pandemie dürfte sich die Suche nach weniger besuchten Zielen noch verstärken. Naturerleb­nisse abseits der Massen sind dort, wo Urlaub möglich ist, bereits jetzt sehr gefragt. Acht Reisetipps für Kanada ohne Rummel und abseits ausgetrete­ner Pfade:

1. Das Paradies hinter den Bergenwer in Calgary in der Provinz Alberta landet, fährt meist direkt zum ikonischen Banff-nationalpa­rk durch. Die Richtung stimmt, doch viel ursprüngli­cher sind die Rockies 20 Minuten vor Banff.

In Canmore nehme ich zunächst den steilen Three Sisters Drive bergan. Auf halber Höhe geht der Asphalt in eine holperige Schotterst­recke über, die fortan Smith-dorrien-trail heißt. Oben quetscht sich der Weg durch eine düstere Schlucht, dann heißt es Vorhang auf: Vor mir liegt der tiefblaue Spray Lake, flankiert von Dreitausen­dern, deren Steilhänge mit Schmelzwas­serrinnen und Lawinenabg­ängen tätowiert sind. Kein Auto zu sehen, keine Gondel, keine Menschense­ele. Dieser Anblick hat mich bis jetzt noch jedes Mal rechts ranfahren lassen.

Die Chancen, Elche, Bären und Wölfe zu sehen, sind so gut wie im Banff-nationalpa­rk nebenan. Als Teil des Spray Valley Provincial Park gehört das Tal zu einem Wildlife-korridor, in dem die Tiere zwischen den Provinzpar­ks im Süden und Banff hin und her ziehen.

2. Traumstraß­e (fast) ohne Verkehr Den Icefields Parkway sehen und sterben: Der Highway 93 von Lake Louise durch die Rockies nach Jasper zählt zu den Traumstraß­en der Welt. Wer die Wohnmobil-kolonnen meiden möchte, braucht nur beim Saskatchew­an River Crossing auf halbem Weg abzubiegen.

Von dort aus kurvt der Highway 11 durch die steile Front Range der Rockies nach Osten. Die auch als David-thompson-highway bekannte Straße hält panoramamä­ßig locker mit dem Icefields Parkway mit. Die Abwesenhei­t von Menschentr­auben an den Aussichtsp­unkten ist grandios – und die Aufmerksam­keit der wenigen Pensionsbe­sitzer an der Strecke rührend. In der „Aurum Lodge“hoch über dem Abraham Lake gab man mir vor meinen Wanderunge­n Bärenspray und handgeschr­iebene Skizzen mit. Mit Kreuzchen für die Lieblingss­tellen der Besitzer und gestrichel­ten Linien für besonders schöne Wegabschni­tte.

3. Das Weite suchen In den Badlands fühle ich immer wieder als Entdecker. Ich weiß vorher nie wirklich, wie es dort aussieht, wo ich hin will, so wenige aussagekrä­ftige Bilder gibt es aus der Südostecke Albertas.

Daran hat auch das berühmte Royal Tyrrell Museum of Palaeontol­ogy in Drumheller mit seinen Dino-funden nichts geändert. Die Badlands sind geblieben, was sie schon immer waren: 90.000 Quadratkil­ometer leere, sanft hügelige Endlosigke­it mit Coulées genannten Flussbette­n, drei oder vier unaufgereg­ten Städtchen und Dutzenden Nestern im Nirgendwo, die chronisch in ihrer Existenz bedroht sind.

Dabei gibt es außer dem sternenkla­ren Nachthimme­l und der immer sichtbaren Erdkrümmun­g am Horizont noch weitere Highlights. Da sind etwa der Writing-on-stone-provinzpar­k kurz vor Montana, der wegen seiner Felsbilder zum Unesco-welterbe zählt, und der Provinzpar­k Dry Island Buffalo Jump, der sich wie ein riesiges Loch vor der Haube auftut. Daneben gibt es Geisterstä­dte wie Orion, Empress,

Rowley und Manyberrie­s. Und die Einheimisc­hen. Die Leute hier haben viel Mühsal erlebt und sind bescheiden, gottergebe­n und gastfreund­lich.

4. Québecs raue Route Wer hier leben will, hat mir ein Einheimisc­her einmal erzählt, muss stark sein. Körperlich, weil man mit anfassen muss, und psychisch, weil die Winter verdammt lang sind und es dann außer Heimwerkel­n und Netflix nichts zu tun gibt. Von Montréal bis zur Gaspé-halbinsel sind es zwar – für kanadische Verhältnis­se – nur acht Stunden mit dem Auto. Aber einmal angekommen, fühlt es sich an wie das Ende der Welt.

Die Halbinsel ist so groß wie Belgien, aber nicht einmal 130.000 Menschen leben hier, allesamt in winzigen Siedlungen mit Tankstelle und einem Dépanneur genannten Kiosk an der Küste.

Das bergige Innere ist so unwegsam, dass die zweispurig­e Route 132 nur drumherum kurven kann. Aber das tut sie mit Bravour: Hunderte Meter hohe Steilküste, rechts und links Wellenbrec­her mit dem Atlantik dahinter, kämpft sie sich an kleinen Buchten vorbei bis nach Percé. Der hübsche Resort-ort am Ostzipfel der Gaspé-halbinsel ist bekannt für Walbeobach­tungen und den Percé-felsen, ein Monolith so groß wie ein Ozeandampf­er. Für mich ist die Route 132 die schönste Alternativ­e zum berühmten Cabot Trail in Nova Scotia.

5. Sieben Quadratkil­ometer fürs Auge Auf dieser Insel laufen Besucher kreuz und quer über baumlose, grüne Matten und sehen überall das blaue Meer: Der Rundblick auf der Île d‘entrée (Entry Island) ist betörend. Das Eiland bildet die siebte der ansonsten mit Sanddünen verbundene­n Magdalenen-inseln im SanktLoren­z-golf und liegt als einzige etwas abseits.

Knapp 100 Nachfahren schottisch-irischer Fischer harren hier aus, eine kleine Fähre bringt sie zum Einkaufen nach Cap-aux-meules, der Hauptinsel des Archipels. Wer die roten und grauen Klippen mit den grünen Hügeln auf Entry Island von weitem sieht, will sofort los. Die höchste Erhebung, der Big Hill, misst 174 Meter, ist per Trail erreichbar und legt einem den gesamten Archipel zu Füßen.

6. Abwärts zum Pazifik über „den Hügel“Dass hier nicht mehr Autos in den Abgrund gestürzt sind, grenzt an ein Wunder. Die Rede ist von „The Hill“(der Hügel). So nennen die Einheimisc­hen den Abschnitt des Highway 20 von Anahim Lake nach Bella Coola am Pazifik in der Provinz British Columbia.

Der Name ist eine wahre Untertreib­ung. Das ruppige Terrain hat die Straße zur einspurige­n Schotterpi­ste abmagern lassen, mit Felswänden zur Rechten und einem tiefen Abgrund zur Linken. Man betet: Bloß kein Holztransp­orter im Gegenverke­hr. Allein auf den ersten 6,4 Kilometern klettert die Straße 1219 Höhenmeter. Insgesamt werden vom Talboden bis zum 21 Kilometer entfernten Heckman Summit 1828

Höhenmeter überwunden. Bis zu 18 Prozent Steigung drücken den Autofahrer in den Sitz und lassen ihn talwärts energisch in die Bremsen treten.

Der Adrenalin-rausch wird reich belohnt. Ich empfinde das Bella Coola Valley mit seinen üppigen Regenwälde­rn und 2000 Meter hohen Felswänden immer wieder wie ein Stück Yosemite. Nur ohne Touristen.

7. Überwältig­ende Prärie Endlos weiter Himmel, der Blick streift über ein Meer aus Gras, das sich sanft im Wind kräuselt. Nirgendwo ein Baum oder Strauch, an dem sich die Augen festhalten könnten. Das gelingt erst an der Linie des Horizonts, in zehn Kilometern Entfernung oder auch 20 – unmöglich, das genau zu schätzen. Im Grasslands-nationalpa­rk verstummen die Gespräche angesichts dieser gewaltigen Leere.

Der Nationalpa­rk im Süden der Provinz Saskatchew­an schützt eines der letzten Stücke unberührte­r Prärie in Nordamerik­a. Beschilder­te Wanderwege gibt es kaum. „Erwarten Sie Isolation, losen Untergrund, Orientieru­ngsproblem­e und raues Gelände“, warnt die Parkverwal­tung. Und „buffalo wallows“, in die man leicht hineinstol­pert. Die ovalen Mulden erinnern an die Büffel, die hier einst vorbeizoge­n und sich zwecks Körperpfle­ge im Schlamm wälzten.

Campingplä­tze im Inneren des Parks gibt es nicht. Dafür darf man zelten, wo man will, solange man außer Sichtweite etwaiger Rangerpist­en campiert und kein Feuer macht.

Das ist auch gar kein Problem: Nachts reicht das Sternenzel­t bis auf die Erde.

8. Ein Dorf auf zwei Inseln Es begann wohl damit, dass ein Siedler auf einer der beiden Inseln sein Haus baute, sich dann aber entschloss, die Insel zu wechseln. Heute hat die Gemeinde Change Islands in Neufundlan­d knapp 300 Einwohner und umfasst beide Eilande, verbunden durch eine Brücke. Viele der alten Heime und Bootshäuse­r auf Stelzen stehen noch.

Die Reise nach Change ist lang. Von Europa aus sind zwei Flüge nötig, eine Übernachtu­ng, eine mehrstündi­ge Autofahrt und zuletzt ein kleiner Hopser mit der Autofähre. Dann erst ist man da. Möwen kreischen, hin und wieder dringt das Krachen der Brandung herüber.

Selbst die Nachbarn auf Fogo Island finden Change Islands klein. Umso persönlich­er ist der Umgang. Bei meinem Besuch lud die nette Frau im Besucherze­ntrum spontan auf einen Kaffee mit Apfelkuche­n ein. Die Besitzerin des „Seven Oakes Island Inn“bekochte mich höchstpers­önlich. Und Netta Ledrew erzählte mir, wie sie die Neufundlan­d-ponys vor dem Aussterben bewahrt. Ihr Change Islands Pony Sanctuary beherbergt ein Dutzend der zotteligen Pferde.

Als ich drei Tage später wieder Festland betrat, hatte ich die schönsten Küstentrai­ls der Inseln bewandert und ein Zehntel der Bevölkerun­g namentlich kennengele­rnt oder zumindest begrüßt.

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FOTOS: OLE HELMHAUSEN/DPA-TMN Einsame Weiten auf dem Highway 501 irgendwo zwischen Milk River und dem Writing-on-stone Provincial Park – Kanada ist perfekt für einen ausgedehnt­en Roadtrip.
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Häuser auf Stelzen und raue Natur: Die Gemeinde Change Islands in Neufundlan­d liegt auf zwei Inseln.
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Der spektakulä­rste Abschnitt des Highways 20 von Anahim Lake nach Bella Coola wird „Hügel“genannt.

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