Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Auf Leben und Tod
Alexei Nawalnys Situation in Haft ist weiter kritisch. Ein Gericht verbietet nun seiner Organisation die Arbeit. Was treibt den Anführer der russischen Opposition noch an?
MOSKAU Als letzte Waffe bleibt Alexei Nawalny wohl nur sein Lächeln. So wie auf diesem seltenen Foto aus der Haft, das die „Nowaja Gazeta“kürzlich veröffentlichte. Der linke Mundwinkel ist leicht nach oben gezogen. Kraftlos wirkt dieses schiefe Lächeln, vor allem im Zusammenspiel mit dem kahlgeschorenen Schädel, aber auch herausfordernd. „Man kann das alles nur mit Humor ertragen“, hatte der russische Oppositionspolitiker nach seiner Festnahme im Januar gesagt. 100 Tage ist das her, und Nawalny lächelt immer noch. Aber wie lange hat er dafür Energie? Seinen Hungerstreik hat er zwar nach gut drei Wochen beendet. Doch die fast schon lyrisch-entrückten Nachrichten, die er zuletzt aus dem Gefängnis übermittelte, lassen existenzielle Zweifel erahnen.
„Wie bei ,Alice im Wunderland’ muss man hier doppelt so schnell laufen, um irgendwohin zu gelangen. Ich bin gerannt, gestürzt und habe mir die Stirn eingeschlagen“, schrieb Nawalny über seine gescheiterte Hungerrevolte. Zuvor schon hatte er sich mit einem Skelett verglichen, das „durch seine Zelle geistert“. Erst einmal wird er nun wohl weiter abmagern. Sich wieder an Nahrung zu gewöhnen, sei härter als das Hungern: „Also wünscht mir Glück.“Doch es ist nicht nur Nawalnys körperlicher Zustand, der seinen Weggefährten Sorgen bereitet. Sie fürchten vor allem, Nawalny könnte unter dem Dauerdruck psychisch zusammenbrechen.
Zugleich steht das Lebenswerk des Herausforderers von Präsident
Wladimir Putin vor dem Aus. Am Montag begann in Moskau ein Prozess gegen Nawalnys Anti-korruptions-fonds FBK, der das Herzstück seines politischen Kampfes bildet. Die Stiftung soll als „extremistisch“eingestuft und damit faktisch verboten werden. Denn Unterstützern würden künftig bis zu sechs Jahre Haft drohen. Als ersten Akt verhängte das Gericht am Montag ein
Arbeitsverbot für die Organisation. Doch längst bereitet der russische Justizapparat neue Prozesse vor.
Janis Kluge, Russland-experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, sagt: „Ich rechne nicht damit, dass Nawalny vor der Präsidentschaftswahl 2024 aus der Haft entlassen wird. Solange Putin in ihm eine Bedrohung sieht, wird man ihn im Gefängnis halten.“Bislang ist der
Kremlkritiker „nur“zu zweieinhalb Jahren verurteilt.
Umso eindringlicher stellt sich 100 Tage nach der Rückkehr Nawalnys aus Deutschland die Frage nach den Motiven des zweifachen Familienvaters. Seine Kinder, den 13-jährigen Sohn Sachar und die 20-jährige Tochter Daria, hat er früh im Westen in Sicherheit gebracht. Denn Nawalny wusste natürlich, was ihn erwartet. Putin hatte oft genug klargestellt, dass „Verrat nicht vergeben wird“. Und selbstverständlich sieht man es im Kreml als Verrat an, wenn Nawalny ein Video über „Putins Palast“veröffentlicht und den Präsidenten als geldgierigen „Sonnenkönig“verhöhnt.
Wer nach Nawalnys Motiven sucht, findet vor allem auf Bildern Hinweise. Denn der 44-Jährige liebt die Kameras. Da ist zum Beispiel dieses Foto von dem letzten Kuss, den er seiner Frau Julija nach der Landung in Moskau gibt. Vielleicht zeigt es einen Abschied für immer. Und doch geschieht alles direkt vor den Objektiven. Die intimste Szene wird preisgegeben. Warum? Weil beides nicht zu trennen ist bei Nawalny: Leben und Lebenswerk verschmelzen. Offensichtlich ist, dass Nawalny gern Grenzen sprengt, im Guten wie im Bösen.
Vielleicht hat das damit zu tun, dass er als junger Mann die blutigen Mafiakämpfe der Jelzin-jahre miterlebt. Er studiert Jura und beginnt seine politische Laufbahn als „Westler“. Doch als die Liberalen chancenlos bleiben, wechselt er auf die nationalistische Seite und setzt auf rassistische Hetze gegen Einwanderer. In einem Video empfiehlt er mit einer Pistole in der Hand, diese „Kakerlaken“zu vernichten. Er bricht nie offen mit dieser Vergangenheit, sondern wendet sich schließlich dem Anti-korruptionskampf zu. Damit hat er ein Thema gefunden, das alle Menschen in Russland betrifft und ihm den Weg an die Spitze der Opposition ebnet. Dort ist er nun angekommen. Um es zu Ende zu bringen. Auf Leben und Tod.