Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Sie schaut in die Herzen ihrer Figuren
Die in Peking geborene Regisseurin Chloé Zhao gewinnt für „Nomadland“als zweite Frau und als erste Nicht-weiße den Regie-oscar. Barack Obama war schon früh Fan ihrer Arbeit. China zensiert Nachrichten über ihren Erfolg.
LOS ANGELES Sie hat erst drei Filme gedreht und ist schon in die Oscar-geschichte eingegangen: Chloé Zhao (39) gewann als zweite Frau überhaupt und als erste Nicht-weiße die Auszeichnung für die Beste Regie. Und ihr Film „Nomadland“ist auch in einer anderen Hinsicht eine Revolution. Die in Peking geborene Zhao erneuert darin die uramerikanische Form des Erzählens von der Heimat, den Western.
Zhao wuchs als Tochter eines chinesischen Industriellen auf, der mit Stahl und Immobilien reich wurde. Ihre Mutter arbeitete im Krankenhaus, die Eltern trennten sich früh, die Stiefmutter ist eine berühmte Fernsehschauspielerin. Mit 14 ging sie in ein englisches Internat, ohne überhaupt Englisch zu sprechen. Sie studierte Politikwissenschaften an einer Elite-uni und Filmproduktion an der Tisch Art School in New York.
Als Jugendliche wurde Zhao zum Fan von Michael Jackson, Mangas und dem Regisseur Wong Kar-wai, dessen „Happy Together“, sie traditionell vor Beginn eines neuen Projektes noch einmal schaut.
Ihre Filme handeln von Außenseitern, sie arbeitet vor allem mit Laiendarstellern, und sie erzählt halbdokumentarische Geschichten, denen man anmerkt, wie stark sich Zhao in die Biografie und Gedanken ihrer Figuren einfühlt. Gemeinsam mit dem Kameramann Joshua James Richards, der auch privat ihr Partner ist, verwirklichte sie 2015 den Film „Songs My Brother Taught Me“, ein Familiendrama, das sie mit Bewohnern des Reservats der Lakota Sioux in South Dakota entwickelte.
Bei den Dreharbeiten lernte sie den jungen indigenen Cowboy Brady Jandreau kennen, der nach einer schweren Verletzung seine große Leidenschaft aufgeben musste: das Rodeo. In „The Rider“erzählte sie 2017 die Geschichte dieses Mannes, und dieser selbst finanzierte Film war ihr Durchbruch. Barack Obama setzte ihn auf die jährliche Liste seiner Lieblingsfilme. Und Frances Mcdormand sah ihn, war begeistert und nahm Kontakt zur Regisseurin auf. Sie schlug ihr vor, das Buch „Nomaden der Arbeit“von Jessica Bruder zu verfilmen, das von einigen der rund acht Millionen Amerikaner erzählt, die im Wohnmobil saisonalen Jobs hinterherreisen.
Chloé Zhao verbindet faktenbasiertes Erzählen mit großartigen Bildern. Sie lotet das Unspektakuläre aus, sie schaut in die Köpfe und Herzen ihrer Figuren, und sie ist interessiert an existenziellen Fragen: Was ist Gemeinschaft? Wie findet der Vereinzelte Zugehörigkeit? Wie mache ich die Fremde zur Heimat? Wie komme ich in meinem Leben an?
In ihrer Heimat indes dürfte sich Zhao nicht mehr zu Hause fühlen. Weil sie in einem älteren Interview China als Land voller Lügen bezeichnete, verschwiegen staatliche Medien Zhaos Triumph. Man wirft ihr vor, den Namen Chinas beschmutzt zu haben. Die Oscar-übertragung wurde im entscheidenden Moment unterbrochen. Hashtags mit ihrem Namen wurden gelöscht. Der Bann war indes nicht total: Über manche soziale Medien konnte man den Clip mit ihrer Dankesrede dann doch sehen.
Wie viele unabhängige Filmemacher, die von sich reden machten, wurde inzwischen auch Zhao für einen Superhelden-film angeheuert. Sie soll im November das Marvel-abenteuer „The Eternals“ins Kino bringen. In dem Blockbuster, an dem auch Angelina Jolie und Salma Hayek beteiligt sind, kommt der erste offen schwule Superheld vor. Noch eine Revolution.
Für „Nomadland“gibt es bis jetzt kein deutsches Startdatum. „Songs My Brother Taught Me“ist auf der Plattform Mubi zu sehen.