Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Immer mit 120 Prozent

Im Alter von 93 Jahren starb die Mezzosopra­nistin Christa Ludwig. Sie sang an allen großen Häusern.

- VON WOLFRAM GOERTZ

WIEN Kaum ist die traurige Nachricht von ihrem Tod eingetroff­en, muss ich sie zu den Lebenden zurückhole­n – und muss mir diesen zweiten Akt aus Wagners „Walküre“anhören. Wie sie als Fricka mit dem Wotan von Hans Hotter ins Gericht geht, wie sie keift, majestätis­ch dröhnt, sanft klagt, wie sie ihre ganze Trauer in Musik fasst: Das zählt in der „Ring“-aufnahme von Georg Solti zu den elementare­n Momenten. Christa Ludwig war ja nicht nur eine Sängerin mit großem stimmliche­n Radius, nicht nur eine Mezzosopra­nistin mit herrlicher Stimme, sondern auch eine Ausdrucksh­ungrige. Was sie sang, beglaubigt­e sie mit 120 Prozent.

Die 1928 in Berlin geborene Künstlerin hat alles gesungen, was in ihrem Fachbereic­h möglich und erreichbar war. Sie war Carmen und Judith, Klytämnest­ra und Cherubino, Venus und Orlowsky. Für jede Rolle, die man ihr anbot, war sie dankbar, Hochmut war ihr fremd. Sogar für Neue Musik von Luigi Dallapicco­la, Pierre Boulez und Luigi Nono interessie­rte sie sich.

Ihr Stammhaus war über Jahrzehnte die Wiener Staatsoper, doch sang sie praktisch in der ganzen Welt. Von allen Dirigenten, die mit ihr arbeiteten, liebte sie Leonard Bernstein besonders; sie nannte ihn (nach dem bekannten Schumann-lied) „den Herrlichst­en von allen“. Bernstein dürfte das Sonderlob stets zurückgege­ben haben.

Und wenn gleich Fricka ausgesunge­n hat und der „Ring“dank ihrer Interventi­on einen anderen Verlauf nimmt, lege ich eine zweite Platte auf, die ich wegen Christa Ludwig nie hergeben würde: Verdis „Requiem“unter Carlo Maria Giulini (mit Schwarzkop­f, Gedda und Ghiaurov). Auch hier ist Christa Ludwig unübertref­flich. Wer das „Lacrymosa“nicht von ihr gehört hat, der hat es nicht gehört.

Christa Ludwig ist jetzt 93-jährig in Klosterneu­burg gestorben.

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