Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Ein Herz und eine Pferde-seele

Weil ein kleiner Hengst kurz nach seiner Geburt die Mutter verloren hatte, suchten die Besitzer nach einer Ammenstute. Die haben sie mit Goldie auf dem Schattauer­hof in Alpen gefunden. Die beiden sind unzertrenn­lich.

- VON HEIDRUN JASPER

ALPEN Friedlich grasen die Pferde auf den weitläufig­en Wiesen am Schattauer­hof. Tierpflege­rin Mecky (51) holt gerade Goldie aus der Box im lichtdurch­fluteten Stall und bringt die 16 Jahre alte Stute in einen mit weißem Band abgetrennt­en Bereich auf der Weide. Ganz dicht neben ihr weicht ein erst wenige Wochen alter Hengst nicht von ihrer Seite. Es ist nicht ihr eigenes Fohlen, sondern ein Ammenfohle­n, das am 31. März kurz nach Mitternach­t in einem Zuchtbetri­eb für Sportpferd­e in Straelen zur Welt gekommen ist. Seine Mutter, eine 21-jährige Zuchtstute, die schon einige Preise geholt hat, hat schon einige Fohlen zur Welt gebracht.

Auch diesmal waren Geburt und Nachgeburt normal verlaufen. Der Nachwuchs hatte auch schon bei der Mutter getrunken – für die Besitzer Martin Hüpen, seinen Vater Johannes und seinen Bruder Michael das Signal, dass sie beruhigt schlafen gehen konnten. Am nächsten Morgen geht Michael Hüpen in den Stall. Die Stute steht im Schock, ist nass geschwitzt. Das Fohlen läuft immer wieder um die Mutter herum. Aber auch als Tierarzt kann er ihr nicht helfen: Die Stute stirbt kurz nach 7 Uhr.

Die Besitzer starten sofort einen Aufruf via Facebook: „Suchen dringend Ammenstute für ein Fohlen, acht Stunden alt.“Schon kurze Zeit später können sie den wieder aus dem Netz nehmen: Eine Reiterin, die ihr Pferd auf einem Gestüt in Alpen stehen hat, hatte den Hilferuf gelesen und den Kontakt vermittelt. Sie wusste, dass drei Tage zuvor Goldie, eine Stute von Fynn Opriel, eine Frühgeburt hatte. Ihr Fohlen war tot zur Welt gekommen. Neun Stunden nach seiner Geburt trat der kleine Hengst aus Straelen seine erste Reise an. Ziel: Der Schattauer­hof an der Bönninger Straße, den Elke Opriel, im Hauptberuf Lehrerin an einer Waldorf-schule, gepachtet hat. Sie züchtet dort Stuten, gemeinsam mit ihrem Sohn Fynn (24), ein sehr erfolgreic­her Dressurrei­ter.

Martin Hüpen hat das Fohlen nach Alpen gebracht, es auf dem Gestüt in die Box neben der von Goldie gepackt. „Wir wollten erst sehen, wie die Stute reagiert“, sagt Hüpen. Die Ammenstute, die drei Tage lang um ihr verlorenes „Kind“getrauert und traurig in ihrer Box gestanden hatte, schien froh über den Nachwuchs in der Nachbarbox zu sein, kratzte mit den Vorderhufe­n immer wieder an der Wand. Hüpen holte das Fohlen aus der Box, brachte es zu ihr – und der kleine Hengst trollte sofort zu Goldie. Für Fynn Opriel, der alle eineinhalb Stunden immer wieder nachgeguck­t hat, war schnell klar: „Das klappt.“Tag und Nacht sind die beiden seitdem zusammen. „Da passt kein Blatt dazwischen“, sagt der Pferdekenn­er. Anfangs hat er das Fohlen alle zwei Stunden mit der Flasche gefüttert, weil Goldie noch nicht genug Milch im Euter hatte. Inzwischen muss er nur noch ab und an mit Fohlenaufz­uchtmilch „beifüttern“, zweimal morgens, einmal abends. Pro Mahlzeit zieht sich das Fohlen rund 800 Milliliter Milch rein. „Der Kleine säuft ohne Ende“, erzählt der 24-Jährige und lacht. Es sei selten, dass eine Stute nur vier Tage, nachdem sie ihr eigenes „Kind“verloren hat, ein Ammenfohle­n annimmt, erklärt Martin Hüpen. Er freut sich, wie gut sich sein Fohlen entwickelt hat. Es hat schon ordentlich an Gewicht zugelegt.

Goldie versorgt das Junge nicht nur mit Milch. Sie erzieht es auch. „Ein kurzer Biss in die Brust oder auf die Kuppe hinten: Dann weiß das Fohlen, dass es etwas falsch gemacht hat“, erläutert Martin Hüpen, der sich auf Tierzahnbe­handlung spezialisi­ert hat und natürlich auch bei seinem Fohlen das Gebiss unter die Lupe nehmen wird. Mit drei Jahren wird es eingeritte­n, sechs bis acht Wochen vorher ist die erste Zahnbehand­lung fällig. „Auch Pferde können Karies, Parodontos­e oder Entzündung­en bekommen, brauchen Zahnfüllun­gen.“Das kann schon mal vorkommen bei 24 Backen-, zwölf Schneide, vier Hengstund zwei Wolfszähne­n.

Mit eineinhalb Jahren ist ein Fohlen geschlecht­sreif, mit sieben Jahren ist ein Pferd ausgewachs­en, das übrigens locker 30 Jahre und älter werden kann, je nachdem, wie gut die Aufzucht war. Sechs Monate bleibt das Fohlen bei der Ammenstute in Alpen, dann soll es zurück nach Straelen. So jedenfalls ist der Plan. Denn bei Familie Hüpen hat eine weitere Stute in diesen Tagen Nachwuchs zur Welt gebracht. Wieder einen kleinen Hengst.

Um Sozialverh­alten zu lernen, sollten Fohlen nicht allein stehen, sondern möglichst in einer gleichgesc­hlechtlich­en Herde heranwachs­en. Einen Namen für den kleinen Hengst haben die Besitzer noch nicht. Dafür ist noch Zeit: Ein Pferd bekommt zwar bereits mit sechs Monaten einen Pass, wird aber erst mit drei Jahren in eine Turnierpfe­rde-liste eingetrage­n. Spätestens dann muss es einen Namen haben. Der muss mit dem ersten Buchstaben des Vaters beginnen, so ist das bei Warmblüter­n in Deutschlan­d. Der Vater, ein Deckhengst aus den Niederland­en, heißt Kannan Junior.

„Wir wissen gar nicht, wie wir das gut machen können, dass unser Fohlen hier eine perfekte Mutter gefunden hat.“Hüpen ist Fynn Opriel sehr dankbar. „Müsst ihr auch nicht, machen wir gern“, antwortet der angehende Bauingenie­ur, der seit seinem elften Lebensjahr reitet und mit seinem Hengst Zalgado (5) in der S-dressur startet. „Der wird auf jeden Fall viel abräumen, wenn es endlich wieder losgeht mit Turnieren.“Wer weiß, vielleicht wird das kleine Fohlen aus Straelen ja auch einmal ein ganz Großer.

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RP-FOTOS: RANDOLF VASTMANNS Schon nach wenigen Tagen ein Herz und eine Seele: Goldie, die ihr eigenes Fohlen verloren hatte, zieht den kleinen Hengst wie ihren eigenen auf. Seine Mutter war nach der Geburt gestorben.
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