Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Stadtarchivarin lädt zur Zeitreise durch Dinslaken ein
Gisela Marzin fängt in ihrem Buch „Dinslaken – eine historische Bilderreise“100 Jahre Stadtgeschehen ein. Ein weißer Wal im Rhein ist ihr besonders in Erinnerung geblieben.
DINSLAKEN/VOERDE Gisela Marzin war gerade acht Jahre alt, als ein weißer Wal im Rhein bei Spellen auftauchte. Die heutige Stadtarchivarin versuchte schon damals, es war 1966, jedes Gespräch zu dem mysteriösen Fall aufzuschnappen. „Ein Zirkusdirektor aus Duisburg wollte ihn damals einfangen“, sagt Marzin. Das hat aber nicht geklappt – obwohl der Wal mit einem Betäubungsgewehr abgeschossen wurde, das eigentlich für Elefanten gedacht war. Irgendwann fand das Tier zur niederländischen Grenze und verschwand im offenen Meer.
Eine Geschichte, die Marzin in ihrem Buch „Dinslaken – eine historische Bilderreise“mit einem eindrücklichen Foto festhält. Darauf ragt die Schnauze des Wals aus den Fluten des Rheins hervor. Im Hintergrund ein Schiff, zwei Männer haben ein großes Netz ausgeworfen, um den Wal zu fangen. Vergeblich. „Sowas ist hier nie wieder vorgekommen“, sagt die Stadtarchivarin. Und auch vor 1966 sei ihr kein Fall bekannt.
Wenn Marzin so etwas sagt, kann man sicher sein, dass es stimmt. Seit einem Vierteljahrhundert beschäftigt sich die 63-Jährige mit der Geschichte Dinslakens. Sie hat anhand von Zeitungsartikeln und Büchern eine Stadtchronik angelegt, die immer weitergeführt wird, sieben Bücher veröffentlicht und gibt regelmäßig Jahrbücher und Schriften über Dinslaken heraus. „Ich tue das, was ich liebe“, sagt Marzin. An ihrem neuesten Buch, das im Winter im Sutton Verlag erschienen ist, hat sie ein halbes Jahr lang gearbeitet. Es sei anstrengend gewesen – neben ihrer Arbeit im Archiv. Doch es habe sich ausgezahlt: Alles, was zwischen 1900 und 2000 in Dinslaken passiert ist, ist auf Fotos in ihrem Buch festgehalten. Dazu gibt es kurze Texte, die die Ereignisse einordnen. „Ich wollte die neuere Geschichte von Dinslaken abbilden“, sagt Marzin.
Die aktuellsten Fotos im Bildband sind sogar von 2009. Darauf zu sehen: Ehemalige jüdische Bürger aus Dinslaken, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel gezogen waren und ihre alte Heimat besuchten. Eine Aktion, die schon 1993 von dem damaligen Studiendirektor am Theodor-heuss-gymnasium, Anton Clermont, initiiert wurde. Er hatte zuvor 20 Jahre lang Briefe mit den Besuchern zwischen Dinslaken und der israelischen Gemeinde Arad hin- und hergeschrieben, um ihren Aufenthalt zu planen. Ursprünglich sollten die Israelis schon 1973 zur 700-Jahr-feier der Stadt kommen. Seit 1993 gab es aber immerhin regelmäßige Treffen: Sogar die Israel-ag des Theodor-heuss-gymnasiums besuchte ihre Partnerschule in Arad. Marzin hat ein Foto in ihr Buch aufgenommen, das die Schüler 2000 in Israel auf der Treppe vor dem Schulgbäude zeigt. Darunter ein Bild des preisgekrönten jüdischen Schriftstellers Amos Oz, der inzwischen verstorben ist. Er diskutierte mit den Dinslakener Schülern über Krieg, Literatur und Barack Obama, später las er im Dachstudio etwas aus seinen Werken vor. Das war im Oktober 2009. Hier endet das Buch.
Alles, was nach 2009 geschehen ist, habe Marzin noch nicht festhalten wollen. Das sei noch zu frisch, die Leser hätten das noch klar vor
Augen. Bei der Sache mit dem weißen Wal sei das anders. Oder bei der Fernsehshow „Spiel ohne Grenzen“, die in den Siebziger Jahren im Hiesfelder Freibad ausgetragen wurde. „Leider hat Dinslaken bei diesem Wettbewerb sehr schlecht abgeschnitten. Wir sind sozusagen katastrophal untergegangen“, sagt Marzin. Die Fotos dazu schaut sie trotzdem gerne an.
Genauso wie die Bilder von Aloys Funkes Projekten, der Pläne für Schulen, Denkmäler und das Rathaus entwarf. Seine Ideen konnten zwar nicht alle realisiert werden und er habe laut Marzin immer im Schatten von seinem Vorgesetzten, dem Stadtarchitekten Heinrich Nottebaum gestanden. Und doch sei er verantwortlich für schöne Fachwerkbauten, gradlinige Schmuckelemente an den Häusern – alles im Stil der neuen Sachlichkeit.
„Funke hat die Hiesfelder Sportlandschaft geplant, wollte einen Volkspark, einen Goldfischteich, einen Tennisplatz, ein Licht- und Luftbad, einen Platz für die Schützen und eine 400-Meter-bahn anlegen“, sagt Gisela Marzin. Manches sei nie zustande gekommen, aber das hätte Funkes Visionen keinerlei Abbruch getan. „Ohne ihn wäre Dinslaken heute nicht so, wie es ist“– da ist sich die Stadtarchivarin sicher.
Obwohl sie im Archiv immer gut beschäftigt ist, überlegt sie schon jetzt, wie man irgendwann die Coronazeit historisch abbilden kann. Mit Fotos von leeren Straßen, von Menschen, die nicht mehr ohne Maske das Haus verlassen und Abstand voneinander halten vielleicht. Marzin werden solche Fragen immer beschäftigen. Denn das Leben in Dinslaken zu archivieren, das ist ihre Berufung.