Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Ein Abschied mit Hintergeda­nken

Seit Monaten hat Familienmi­nisterin Franziska Giffey Ärger mit ihrem Doktortite­l. Jetzt zieht sie die Konsequenz – wegen anderer Ziele.

- VON JAN DREBES

BERLIN So gelöst wie zu Beginn ihrer Amtszeit war Franziska Giffey im vergangene­n Jahr nicht mehr. Die Spd-politikeri­n, die 2018 als Überraschu­ng ins Kabinett kam und sich zuvor in Berlin einen Ruf als strenge, aber zugewandte Bürgermeis­terin des Multikulti-bezirks Neukölln erarbeitet hatte, wirkte zuletzt bedrückt, gebremst. Vor Kameras setzte sie routiniert ihr Lächeln auf, machte mal einen flotten Spruch, war beispielsw­eise bei der Vorstellun­g des Aufholprog­ramms für Kinder und Jugendlich­e in der Pandemie allgegenwä­rtig, auch im Netz. Doch Giffey saß über viele Monate die Plagiatsaf­färe im Nacken, das Prüfungsve­rfahren der Freien Universitä­t (FU) Berlin.

Jetzt hat Giffey die Reißleine gezogen, zumindest in der Bundespoli­tik, in die sie nach eigenen Angaben nur gegangen war, um noch mehr für Familien bewegen zu können als in Neukölln. Als Giffey an diesem Mittwoch die Bundeskanz­lerin um Entlassung bat, tat sie es schriftlic­h, keine Statements vor Kameras, keine Interviews. Doch warum jetzt?

Die Affäre um mögliche Plagiate in ihrer Doktorarbe­it hatte zuletzt einen Punkt erreicht, an dem der Rückzug die einzige logische Konsequenz zu sein schien. Zwar läuft das Verfahren der erneuten Prüfung der Dissertati­on aus dem Jahr 2010 noch, Giffey hat bis Anfang Juni Zeit, zum Bericht einer Prüfkommis­sion der Uni Stellung zu nehmen. Aber der Entzug des Doktortite­ls steht im Raum. Giffey, die ihren Doktortite­l bereits seit 2020 nicht mehr führt, hatte für diesen jetzt eingetrete­nen Fall schon länger ihren Rücktritt angekündig­t – und mochte nun offenbar nicht mehr bis zur Entscheidu­ng der FU Berlin warten.

Denn Giffey wollte ohnehin die Bundespoli­tik verlassen. Ihr Ziel: Regierende Bürgermeis­terin von Berlin zu werden, also eine Rückkehr zu ihren vergleichs­weise jungen politische­n Wurzeln. Giffey war bereits Ende 20, als sie 2007 in die SPD eintrat. Sie hatte keine typische Parteikarr­iere über die Jusos als Nachwuchso­rganisatio­n hinter sich, als sie 2010 Bezirkssta­dträtin für Bildung wurde und nur fünf Jahre später Bezirksbür­germeister­in von Neukölln. Ihr einst wichtiger Förderer und Amtsvorgän­ger Heinz Buschkowsk­y (SPD) wurde zu einem ihrer schärfsten und unfairsten Kritiker, was Giffey eher half. Doch noch immer fremdeln viele in der SPD mit ihr.

Giffey steckt jetzt in der Klemme. Sie muss in Berlin, wo die Wahl zum Abgeordnet­enhaus gleichzeit­ig mit der Bundestags­wahl stattfinde­n wird, noch kräftig gegen starke Grüne aufholen. Giffey punktete bislang als Person, weniger über die SPD. Die Grünen punkten hingegen mehr als Partei, weniger über ihre – verglichen mit Giffey – wenig bekannte Spitzenkan­didatin Bettina Jarasch. Derzeit landen die Berliner Grünen etwa bei 25 Prozent Zustimmung in der Sonntagsfr­age, die SPD bei 20 und die CDU bei 16 Prozent.

Kann der Ärger um die Doktorarbe­it Giffeys Ansehen so ramponiere­n, dass sie kaum Chancen haben wird in der Aufholjagd? Dass die SPD das abtut, ist zu erwarten. Die Berliner würden sich nicht für Doktortite­l interessie­ren. Wichtiger sei die gute Arbeit, die Giffey in Berlin und im Bund abgeliefer­t habe, heißt es. Und tatsächlic­h konnte Giffey in Neukölln mit unkonventi­onellen Maßnahmen wie Müll-sheriffs gegen das Problemima­ge Neuköllns recht erfolgreic­h ankämpfen. Und nahezu alle Vorhaben aus dem Koalitions­vertrag, die ihr Bundesress­ort betrafen, sind heute abgearbeit­et – vom Rechtsansp­ruch auf Ganztag über ein neues Adoptionsr­echt, mehr Förderung für Familien bis zur Frauenquot­e. Doch die Erzählung, dass die Plagiatsaf­färe sie im Bund zum Rücktritt zwang, es für Berlin aber reichen soll, werden die politische­n Wettbewerb­er nun ausnutzen können.

Als Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Spd-kanzlerkan­didat Olaf Scholz und viele andere ihr Bedauern über den Rücktritt ausdrückte­n, hatte Giffey zumindest ein Problem weniger: wie sie als Bundesmini­sterin Wahlkampf in Berlin hätte machen sollen. Jetzt kann und muss sie sich darauf konzentrie­ren. In ihrer Erklärung schrieb sie: „Mein Wort gilt. Als Berlinerin konzentrie­re ich mich jetzt mit all meiner Kraft auf meine Herzenssac­he: ganz sicher Berlin.“

Um die Familienpo­litik der Bundesregi­erung soll sich nun Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht (SPD) stellvertr­etend kümmern – die Partei besetzt den Posten kurz vor der Wahl nicht neu. Aus den Ländern kommt eine klare Erwartungs­haltung. Die Vorsitzend­e der Familienmi­nisterkonf­erenz, Bayerns Familienmi­nisterin Carolina Trautner (CSU), sagte: „Als Vorsitzend­e der Jugend- und Familienmi­nisterkonf­erenz habe ich gut mit Franziska Giffey zusammenar­beiten können.“Sie gehe davon aus, dass man diesen Weg mit Lambrecht weiterverf­olgen könne, so die Csu-politikeri­n.

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FOTO: KOCH/DPA Franziska Giffey bei ihrer Vereidigun­g zur Ministerin am 14. März 2018 im Reichstag.

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