Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Leben im Dazwischen
Das Jetzt fühlt sich eigenartig an. Wie ein Warteraum, ein Übergang oder eine Schwelle. Etwas Altes ist zu Ende, aber das Neue hat noch nicht begonnen. Eine Zustandsbeschreibung.
Es wirkt, als sei die Gegenwart durchsichtig. Und leicht verschwommen. Sie fühlt sich eigenartig an, irgendwie lose gefügt, nicht festgelegt, von vornherein nur auf geringe Dauer ausgerichtet. Es wirkt, als lebten wir in einem Transitzustand, in einem großen Dazwischen. Als diffundierten wir im Übergangsmantel durch die Tage und Wochen. Wir schweben zwischen dem Ende jener Zeit, als positiv noch etwas Gutes bedeutete, und dem Beginn der Ära, in der hoffentlich alle negativ sind. Nach der zweiten Impfung ist vor der Impfauffrischung.
Corona wirkt wie eine Zeitenwende, das wird immer deutlicher. Aber auch andere Erscheinungen lassen das Jetzt wie einen Transitraum erscheinen, wie eine Schleuse oder Schwelle. Der anstehende Wechsel im Bundeskanzleramt, die Neubesetzung des Bundestrainerjobs sind äußere Daten. Gesellschaftlich geht es darum, das gesteigerte Bewusstsein für Gleichberechtigung, Feminismus und Rassismus so zu verankern, dass es weniger Ungerechtigkeiten gibt. Etwas Abstraktes also konkretisieren zu müssen. Gleiches gilt für die Erkenntnis, dass kaum noch Zeit bleibt, das Klima und die Umwelt zu schützen. Und weil ja das Ästhetische stets die Gesamtatmosphäre zum Ausdruck bringt, passt es gut, dass der Roman der Saison „Daheim“von Judith Hermann ist. Er handelt von einer namenlosen Frau, die sich nach dem Auszug der Tochter und der Trennung von ihrem Partner in einem Verpuppungsstadium befindet. Und es bleibt unklar, was daraus werden wird. „Eine Mischung als Melancholie, Versenkung und Freiheitsrausch“diagnostiziert der Deutschlandfunk dieser Erzählung.
Vielleicht ist es ja wirklich so, dass wir im Startblock kauern und auf den Schuss warten. Dass jemand auf Zeitlupe umgestellt hat. Das Dazwischen wäre so gesehen eine Phase der Selbstbefragung: Sind wir nach Corona noch dieselben, die wir vorher waren? Können wir uns auf das Leben nach der Pandemie noch freuen? Oder werden wir beklommen durch Menschenmengen schreiten? Wie viel Platz ist noch zwischen Vorsicht und Lebensfreude? Und was, wenn der Übergang zum Dauerzustand wird? Wie richtet man sich ein im Werden? Kann man überhaupt noch mit einer Haltung durchs Leben gehen, oder muss man seine Einstellung den Phänomenen gegenüber jedes Mal aufs Neue überprüfen?
Zum Charakter der Zwischenräume gehört, dass sie zwei größere Räume verbinden. Sie sind Orte der Sammlung, sie bieten Gelegenheit, Luft zu holen. Im Zwischenraum denkt man selten an die Gegenwart, also an den Zwischenraum selbst. Sondern vielmehr an das, was man im anderen Raum erlebte, oder daran, was man im nächsten Raum erleben wird. Man ist also zugleich an- und abwesend, der Zeit enthoben, irgendwie entrückt. Ein sonderbarer Zustand der Unschärfe. Und einer, der Chancen eröffnet.
Denn nur wer zwischen den Zeilen liest, sieht die Wahrheit. Nur wer auf Zwischentöne achtet, hört alles. Der Transit ist eine Intervention, die unsere Sichtweise auf gesellschaftliche Phänomene verändert. Wir stellen uns selbst infrage und geben also für einen Moment die Sicherheit auf, in der wir uns wähnten. Die Selbstgewissheit auch. In solchen Momenten könnte es am ehesten möglich sein, sich von einschlägigen Praktiken zu verabschieden und vorhandene Machtstrukturen infrage zu stellen: Wollen wir so leben, wie wir gelebt haben?
Man könnte sagen, wir befinden uns in einer Phase, in der Bruchkanten sichtbar werden. Sie mit gesteigerter Aufmerksamkeit zu betrachten, könnte sich lohnen. Sinn ergibt sich nämlich nur, wenn man die Lücken mitliest. In ihnen tun sich Wahrheit und Erkenntnis auf.
„Wir haben lesen gelernt in dieser Pandemie“, schreibt denn auch Carolin Emcke. „Wie sich Zusammenhänge denken und Folgewirkungen modellieren lassen, wie sich einmal verlorene Zeit nicht mehr einholen lässt, wie tödlich und unverzeihlich Wunschdenken sein kann, das werden wir nie wieder vergessen. Wir werden es brauchen für die andere Krise.“
Die Herausforderung besteht darin, den Weg zu finden, wie man in die Zukunft überführt, was jetzt als dringlich erscheint. Menschlichkeit könnte ein guter Kompass sein.