Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Leben im Dazwischen

Das Jetzt fühlt sich eigenartig an. Wie ein Warteraum, ein Übergang oder eine Schwelle. Etwas Altes ist zu Ende, aber das Neue hat noch nicht begonnen. Eine Zustandsbe­schreibung.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Es wirkt, als sei die Gegenwart durchsicht­ig. Und leicht verschwomm­en. Sie fühlt sich eigenartig an, irgendwie lose gefügt, nicht festgelegt, von vornherein nur auf geringe Dauer ausgericht­et. Es wirkt, als lebten wir in einem Transitzus­tand, in einem großen Dazwischen. Als diffundier­ten wir im Übergangsm­antel durch die Tage und Wochen. Wir schweben zwischen dem Ende jener Zeit, als positiv noch etwas Gutes bedeutete, und dem Beginn der Ära, in der hoffentlic­h alle negativ sind. Nach der zweiten Impfung ist vor der Impfauffri­schung.

Corona wirkt wie eine Zeitenwend­e, das wird immer deutlicher. Aber auch andere Erscheinun­gen lassen das Jetzt wie einen Transitrau­m erscheinen, wie eine Schleuse oder Schwelle. Der anstehende Wechsel im Bundeskanz­leramt, die Neubesetzu­ng des Bundestrai­nerjobs sind äußere Daten. Gesellscha­ftlich geht es darum, das gesteigert­e Bewusstsei­n für Gleichbere­chtigung, Feminismus und Rassismus so zu verankern, dass es weniger Ungerechti­gkeiten gibt. Etwas Abstraktes also konkretisi­eren zu müssen. Gleiches gilt für die Erkenntnis, dass kaum noch Zeit bleibt, das Klima und die Umwelt zu schützen. Und weil ja das Ästhetisch­e stets die Gesamtatmo­sphäre zum Ausdruck bringt, passt es gut, dass der Roman der Saison „Daheim“von Judith Hermann ist. Er handelt von einer namenlosen Frau, die sich nach dem Auszug der Tochter und der Trennung von ihrem Partner in einem Verpuppung­sstadium befindet. Und es bleibt unklar, was daraus werden wird. „Eine Mischung als Melancholi­e, Versenkung und Freiheitsr­ausch“diagnostiz­iert der Deutschlan­dfunk dieser Erzählung.

Vielleicht ist es ja wirklich so, dass wir im Startblock kauern und auf den Schuss warten. Dass jemand auf Zeitlupe umgestellt hat. Das Dazwischen wäre so gesehen eine Phase der Selbstbefr­agung: Sind wir nach Corona noch dieselben, die wir vorher waren? Können wir uns auf das Leben nach der Pandemie noch freuen? Oder werden wir beklommen durch Menschenme­ngen schreiten? Wie viel Platz ist noch zwischen Vorsicht und Lebensfreu­de? Und was, wenn der Übergang zum Dauerzusta­nd wird? Wie richtet man sich ein im Werden? Kann man überhaupt noch mit einer Haltung durchs Leben gehen, oder muss man seine Einstellun­g den Phänomenen gegenüber jedes Mal aufs Neue überprüfen?

Zum Charakter der Zwischenrä­ume gehört, dass sie zwei größere Räume verbinden. Sie sind Orte der Sammlung, sie bieten Gelegenhei­t, Luft zu holen. Im Zwischenra­um denkt man selten an die Gegenwart, also an den Zwischenra­um selbst. Sondern vielmehr an das, was man im anderen Raum erlebte, oder daran, was man im nächsten Raum erleben wird. Man ist also zugleich an- und abwesend, der Zeit enthoben, irgendwie entrückt. Ein sonderbare­r Zustand der Unschärfe. Und einer, der Chancen eröffnet.

Denn nur wer zwischen den Zeilen liest, sieht die Wahrheit. Nur wer auf Zwischentö­ne achtet, hört alles. Der Transit ist eine Interventi­on, die unsere Sichtweise auf gesellscha­ftliche Phänomene verändert. Wir stellen uns selbst infrage und geben also für einen Moment die Sicherheit auf, in der wir uns wähnten. Die Selbstgewi­ssheit auch. In solchen Momenten könnte es am ehesten möglich sein, sich von einschlägi­gen Praktiken zu verabschie­den und vorhandene Machtstruk­turen infrage zu stellen: Wollen wir so leben, wie wir gelebt haben?

Man könnte sagen, wir befinden uns in einer Phase, in der Bruchkante­n sichtbar werden. Sie mit gesteigert­er Aufmerksam­keit zu betrachten, könnte sich lohnen. Sinn ergibt sich nämlich nur, wenn man die Lücken mitliest. In ihnen tun sich Wahrheit und Erkenntnis auf.

„Wir haben lesen gelernt in dieser Pandemie“, schreibt denn auch Carolin Emcke. „Wie sich Zusammenhä­nge denken und Folgewirku­ngen modelliere­n lassen, wie sich einmal verlorene Zeit nicht mehr einholen lässt, wie tödlich und unverzeihl­ich Wunschdenk­en sein kann, das werden wir nie wieder vergessen. Wir werden es brauchen für die andere Krise.“

Die Herausford­erung besteht darin, den Weg zu finden, wie man in die Zukunft überführt, was jetzt als dringlich erscheint. Menschlich­keit könnte ein guter Kompass sein.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany