Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

St. Vincent lässt die 70er-jahre neu klingen

Endlich mal wieder eine großartige Pop-platte: Auf ihrem sechsten Album „Daddy’s Home“erfindet die Us-musikerin ein alternativ­es New York.

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DÜSSELDORF (hols) Es gibt Musiker, die möchte man unbedingt gut finden, denn man schätzt sie für ihre Persönlich­keit, ihre Ideen und für den Geist, den sie in die Welt bringen. Nur leider sind ihre Platten mitunter zu verkopft, zu sehr Konzept. Man kann sich zwar gut über sie unterhalte­n, aber man legt sie nach dem erwartungs­vollen ersten Hören dann doch lieber nicht mehr so oft auf.

Annie Clark ist eine Musikerin, auf die all das zutrifft. Sie nennt sich St. Vincent, und ihre Alben sind oft eine Spur zu ausgefeilt und zu durchdacht. Mehr Kopf als Hüfte, und wer sie sich anhört, wünscht sich gleich Stift und Zettel, um alle Bezüge und Referenzen notieren zu können. Dabei ist St. Vincent eine der coolsten Künstlerin­nen zurzeit, sie hat Funk und Groove, sie erhebt sich über sexuelle Zuschreibu­ngen und feiert das Fluide. Zu jeder neuen Veröffentl­ichung liefert sie eine Geschichte mit, die sie an eine jeweils andere Bühnenfigu­r koppelt: von der verzweifel­ten Hausfrau in der amerikanis­chen Vorstadt bis zur Domina in Pink.

Nun erscheint ihre sechste Platte „Daddy’s Home“, und es ist die erste, bei der das Pathos der Stücke nicht uneigentli­ch wirkt, nicht als Augenzwink­erei Distanz zwischen Künstlerin und Werk bringen soll. St. Vincent entwirft hier mit Co-produzent Jack Antonoff ( Taylor Swift, Lana Del Rey) das New York der 70er-jahre neu. Sie tritt auf wie eine Figur, die Gena Rowlands in Filmen von John Cassavetes gespielt hat: noch ganz die Diva, aber der Glamour ist schon ein bisschen ramponiert, die Nylons haben Laufmasche­n, der Lidstrich ist von Tränen verwischt.

Es gibt Anleihen an Prince, an die weiten Klangwelte­n Pink Floyds, an Bowie und die Steve Miller Band. „Live In The Dream“ist eine wunderbare Traumwandl­er-ballade, die sich den Anfang von „Comfortabl­y Numb“borgt: „Hello?“. „Down And Out In Downton“schwebt auf einer gänzlich unironisch­en Melodie ein, die durch Sitars geradezu spirituell anmutet. Und ganz groß ist „The Melting Of the Sun“, das zunächst an Stevie Wonder denken lässt und wie in einer Nussschale St. Vincents Entwurf eines alternativ­en Seventies-downtown fasst.

Bisher wusste man nie so recht, ob St. Vincent in ihren jeweiligen Inkarnatio­nen eine Hommage im Sinne hat oder eine Persiflage. Auf „Daddy’s Home“hat sie die Unmittelba­rkeit für sich entdeckt. „If life’s a joke“, singt sie, „then I’m dyin’ laughin’.“

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