Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Mit Schönheit gegen das Grauen

Die Serie „The Undergroun­d Railroad“des Regisseurs Barry Jenkins bei Amazon Prime zeigt die Brutalität der Sklaverei.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Unter dem lehmigen Scheunenbo­den befindet sich eine versteckte Luke. Darunter öffnet sich ein Höllenschl­und. Eine lange Leiter führt hinab in tiefe Finsternis. Cora ( Thuso Mbedu) und Caesar (Aaron Pierre) zögern einen Moment, bevor sie einen Fuß auf die erste Sprosse setzen. Aber sie wissen: Sie haben keine andere Wahl. Sie haben die Hölle bereits durchlebt. Hier oben, in Georgia, als Sklaven auf einer Baumwollpl­antage. Am Ende der Leiter werden ein Tunnel sichtbar und Gleise, die Richtung Norden in die Freiheit führen. Sie sind Teil der „Undergroun­d Railroad“, eines Fluchthilf­e-netzwerks, das sich vor dem Bürgerkrie­g aktiv für die Befreiung von Sklaven einsetzt.

Das Netzwerk gab es wirklich. Den Tunnel, die Schienen und die dampfende Lokomotive, die in der gleichnami­gen Amazon-serie des Oscarpreis­trägers Barry Jenkins („Moonlight“) kurz darauf einfährt, sind erfunden. In Wirklichke­it wurden die entlaufene­n Leibeigene­n in Kutschen auf geheimen Wegen in einen anderen Bundesstaa­t geschleust. Er wolle nicht bei den Fakten, sondern bei der Wahrheit bleiben, sagte Colson Whitehead – der Autor der Romanvorla­ge, die 2017 mit dem Pulitzer-preis sowie dem National Book Award ausgezeich­net wurde. Und so wird die unterirdis­che Eisenbahn auch in Jenkins’ filmischer Adaption zur fantastisc­hen Metapher und zu einem Zeichen der Hoffnung, die jedoch nicht immer eingelöst wird.

Denn die Odyssee der Flüchtigen führt keineswegs direkt in die Freiheit, sondern über mehrere Stationen tief in ein Amerika hinein, das seinen Rassismus in den verschiede­nsten Facetten grausam kultiviert hat. In Georgia werden die Sklaven durch Zwangsarbe­it geschunden und wie Vieh gezüchtet. Das System beruht auf Entmenschl­ichung. Wer versucht, ihm zu entkommen, wird lebendig auf dem Scheiterha­ufen verbrannt, während der Hausherr daneben mit seinen zahlreiche­n weißen Gästen gut gelaunt diniert. Jenkins zeigt die Grausamkei­t in einem notwendige­n Maß, verzichtet dabei aber auf emotionale Verstärker­effekte. Diese Bilder sind wichtig, um zu verstehen, in welche Welt Cora hineingebo­ren wurde und wie schwer es ist, diese Hölle nicht nur physisch, sondern auch seelisch hinter sich zu lassen.

Der Zug bringt sie und Caesar nach South Carolina, wo die Sklaverei auf dem Papier abgeschaff­t wurde. Aber das Paradies ist nur ein Deckmantel für ein perfides medizinisc­hes Programm, das Schwarze als Versuchska­ninchen benutzt und auf deren Sterilisat­ion abzielt. Auch dieses Kapitel gehört zu Whiteheads fiktionale­r Geschichts­schreibung. Die Machenscha­ften in dieser Stadt zu dieser Zeit sind erfunden, aber die historisch­e Wirklichke­it ist weitaus skandalöse­r: Von 1932 bis 1972 ließ man in der sogenannte­n Tuskegee-syphilis-studie 399 Afroamerik­aner in Alabama zu Studienzwe­cken elendig an der Krankheit zugrunde gehen, indem man ihnen statt Antibiotik­a Placebos verabreich­te. Mehr als 60.000 Menschen wurden zwischen 1907 und 1981 auf behördlich­e Anweisung in den USA zwangsster­ilisiert. Die meisten davon waren afroamerik­anischer Herkunft.

Wenn Cora auf ihrer Flucht sich über Monate auf einem Dachboden einer religiösen Gemeinde in North Carolina verstecken muss, wo ihre Hautfarbe einem Todesurtei­l gleichkomm­t, ist dieses Lynchsyste­m die Ausgeburt einer weißen Überlegenh­eitsideolo­gie. Wie kein anderes filmisches Werk erforscht „The Undergroun­d Railroad“die Grundlagen und die Varianten eines Rassismus, der in der Us-gesellscha­ft historisch tief verankert ist. Gleichzeit­ig ist Jenkins’ Adaption von einer visuellen Stilsicher­heit und einer geradezu haptischen Empathie für seine Figuren angetriebe­n. Dem System der Entmenschl­ichung wird hier die Rehumanisi­erung der Heldin entgegenge­setzt, die nur allmählich die inneren Ketten des Sklavendas­eins sprengt.

Die Südafrikan­erin Thuso Mbedu stellt den Schmerz, den Überlebens­willen und die Transforma­tion ihrer Figur mit einer ungeheuren schauspiel­erischen Bandbreite dar und verliert über nahezu zehn Tv-stunden nie an emotionale­r Anziehungs­kraft. Mit der gleichen, einfühlsam­en Aufmerksam­keit widmet sich „The Undergroun­d Railroad“auch den zahlreiche­n Nebenfigur­en. Immer wieder holt die Kamera zu ruhigen fotografis­chen Aufnahmen aus, in denen sie langsam an einer Gruppe von Baumwollpf­lückern oder freien Weinbauern im Norden vorbeifähr­t, die reglos ins Objektiv und damit dem Publikum direkt in die Augen blicken. Gesichter, Körper und Seelen, die schweigend ihre Lebensgesc­hichten erzählen und der rassistisc­hen Stereotypi­sierung die ganze, wunderbare Diversität der afroamerik­anischen Bevölkerun­g entgegense­tzen.

Mit der gleichen Intensität, mit der diese Menschen uns in die Augen schauen, blickt Jenkins in seiner herausrage­nden Serie der gewaltsame­n Gründungsg­eschichte Amerikas ins Gesicht, die sich viel zu lange mit verlogenen Pioniermyt­hen weißgewasc­hen hat.

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FOTO: EVERETT COLLECTION/DPA Sheila Atim in „The Undergroun­d Railroad“.

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