Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Die Cdu-politikeri­n spricht im Interview über die Einsamkeit in der Gesellscha­ft.

DIANA KINNERT Die Cdu-politikeri­n spricht über die Folgen der Einsamkeit und übt Kritik an ihrer eigenen Partei.

- JANA WOLF FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

BERLIN Diana Kinnert (CDU) macht sich in ihrer Partei für eine stärkere Beteiligun­g junger Menschen und Frauen stark. Sie spricht nicht nur über Vielfalt, sondern auch über Einsamkeit, mit der sie sich für ihr neues Buch „Die neue Einsamkeit“(2021) intensiv beschäftig­t hat.

Frau Kinnert, hat die Pandemie die Einsamkeit verstärkt oder das Problem nur sichtbarer gemacht? KINNERT Beides. Einsamkeit wurde durch die Politik der Kontaktbes­chränkunge­n und durch die politische Vernachläs­sigung des Stressfakt­ors von sozialer Isolation verstärkt. Manche sagen, diese Kontaktbes­chränkunge­n waren unvermeidb­ar. Ich glaube, man hätte intelligen­tere, spezifisch­ere Regelungen entwickeln können, die Rücksicht auf diverse Lebenslage­n nehmen. Und es erscheint irritieren­d bis primitiv, Möbelhäuse­r zu öffnen, während soziale, kulturelle, identitäts­stiftende Horte für Jugendlich­e, Kulturvere­ine, die LGBTQ-GEmeinde und andere Gruppen viele weitere Monate geschlosse­n bleiben müssen. Erst Konsument, dann Bürger? Ich sehe da eine inakzeptab­le Schieflage. Immerhin wird nun mehr über das Thema Einsamkeit gesprochen, zumindest jetzt, nach mehr als einem Jahr Pandemie.

Warum ist das so wichtig?

KINNERT 65 Prozent der Kinder und Jugendlich­en sind einsam. Ein Drittel der Kinder und Jugendlich­en weist eine depressive Symptomati­k auf. Jedes fünfte Kind neigt zu selbstverl­etzendem Verhalten. Die Suizidrate hat im Lockdown deutlich zugenommen. Die mentale Belastung ist sehr hoch, sie greift auch das Immunsyste­m an. Ganz unabhängig von der Pandemie führt das subjektive Empfinden von Einsamkeit zu psychische­n und physischen Erkrankung­en. Der Einfluss entspricht 15 Zigaretten am Tag; Einsamkeit macht doppelt so krank wie langjährig­e Adipositas.

Als Regierungs­partei hat die CDU die Pandemiepo­litik stark geprägt. Trifft Ihre Kritik vor allem die eigene Partei?

KINNERT Ich möchte mich in meiner Partei engagieren, nicht indem ich zu allem applaudier­e, sondern indem ich Argumente einbringe und versuche, die Ausrichtun­g zu verbessern. Es ist eben schneller über pauschale Ausgangssp­erren entschiede­n, wenn im Parlament nur Abgeordnet­e sitzen, die sich Einfamilie­nhäuser mit Gärten leisten können. Ich hätte mir gewünscht, dass vielfältig­ere Stimmen berücksich­tigt werden. Gerade in den ersten Monaten haben wir das Leid von Kindern, Jugendlich­en und Studierend­en ignoriert. Das ist ein Problem der Repräsenta­nz. Deswegen bin ich entgegen der Linie meiner Partei auch der Meinung, dass wir das Wahlalter auf 16 herabsetze­n sollten. Genauso finde ich, dass über 80-Jährige in vielen Fragen vernachläs­sigt worden sind, allen voran bei der digitalen Teilhabe.

Warum findet das Thema Einsamkeit trotz seiner Bedeutung bisher wenig Beachtung?

KINNERT Länder mit einer starken Industrieg­eschichte sind auf Erwerbsfäh­igkeit fokussiert – daher auch die Vernachläs­sigung der ganz Jungen und der ganz Alten. Und es gibt eine Konzentrat­ion auf die physische Gesundheit. Von den Fördergeld­ern für medizinisc­he Forschung wird nur ein kleiner Anteil auf die Erforschun­g von psychische­n Erkrankung­en und mentalen Stressfakt­oren verwendet. Einsamkeit wird häufig als sentimenta­les, weiches Thema geringgesc­hätzt.

In Großbritan­nien und Japan gibt es Einsamkeit­sministeri­en. Sollte es das auch in Deutschlan­d geben? KINNERT Zunächst brauchen wir die Diagnose und Einordnung: Einsamkeit ist eine der größten gesellscha­ftspolitis­chen Herausford­erungen, folgenschw­er und unterschät­zt. Dieser Befund ist Voraussetz­ung für den Kampf gegen Einsamkeit, der auch in unserem Wahlprogra­mm verankert werden sollte. Und ja: Es braucht klare politische Zuständigk­eit. Das muss kein eigenes Ministeriu­m sein, denn Einsamkeit betrifft soziale, gesundheit­liche, ökonomisch­e Fragen gleicherma­ßen und zieht sich quer durch alle Politikfel­der. Ich bin für einen Beauftragt­en der Bundesregi­erung. Generell stelle ich fest, dass moderne Phänomene wie Digitalisi­erung, Nachhaltig­keit, Migration und eben auch Einsamkeit über die starren Zuschnitte von Ministerie­n hinausgehe­n. Unser heutiges Politiksys­tem ist einfach Jahrzehnte alt.

Sind Sie für einen radikalen Neuzuschni­tt?

KINNERT Was heißt radikal? Wir brauchen atmende, agile Infrastruk­tur und eine politische Architektu­r, die reformierb­ar und modernisie­rbar ist. Ich fände es fatal, sich dem zu verweigern, weil es den Herausford­erungen unserer Zeit nicht gerecht werden würde.

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