Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
So gut ist der Kader
Am 11. Juni beginnt die Europameisterschaft, und jetzt steht fest, wer mitfährt. Der große Überblick
FRANKFURTJOACHIM Löw war schon auf der Zugspitze, im Dortmunder Fußballmuseum, beim damaligen Sponsor Mercedes Benz und in Ascona. Diesmal gab er das Aufgebot der Nationalmannschaft für ein großes, sein letztes Turnier in einer Videokonferenz bekannt. 6500 Fans waren live zugeschaltet. Corona verhindert das große Tamtam.
Wie immer hatte der Bundestrainer auch zur Europameisterschaft (11. Juni bis 11. Juli) ein paar Überraschungen im Gepäck. Dazu zählt die Nominierung des Freiburger Profis Christian Günter, von dem er sich ein bisschen Dampf auf der linken Außenbahn verspricht. Von Günters Fähigkeiten hat er sich häufig als Zuschauer im Stadion an der Dreisam überzeugen können. Im Angriff ist er über seinen Schatten gesprungen, indem er den ehemaligen Leverkusener Kevin Volland berief – mal wieder einen richtigen Mittelstürmer. Wie erwartet kehren die Routiniers Thomas Müller und Mats Hummels ins Aufgebot zurück. „Spieler, die respektiert sind“, wie Löw urteilte. Wieder, hätte er hinzufügen können – jedenfalls, was ihn selbst betrifft. Die Mannschaftsteile in der Analyse.
Tor Das Team stellt sich dort von selbst auf. Marc-andré ter Stegen (FC Barcelona) musste wegen einer Verletzung absagen. Deshalb sind Kevin Trapp und Bernd Leno die logischen Ersatzleute für Manuel Neuer, der immer noch einer der besten Torhüter der Welt, vielleicht sogar der beste der Welt ist. Auf dieser Position hat Deutschland traditionell keine Probleme.
Abwehr Der Freiburger Günter profitiert davon, dass die Dfb-auswahl auf den Außenpositionen nicht zu üppig mit Weltklasse bestückt ist. Unfreundlicher ausgedrückt: Seit Philipp Lahm aufgehört und Joshua Kimmich ins Mittelfeld gewechselt ist, hat Deutschland hier einen gehörigen Abstand zum obersten Niveau.
In der Zentrale soll Hummels dafür sorgen, „dass mehr Stabilität einkehrt“, wie Löw sagte. „In einigen Spielen hat uns die Erfahrung gefehlt.“Der Dortmunder Weltmeister soll die Führungskraft (nicht nur) in der Defensive sein. Je nach System könnte er in der Mitte einer Dreierkette stehen oder als Organisator einer Viererkette möglicherweise mit einem defensiven rechten Nebenmann (Matthias Ginter?). Wenn Löw nicht zufällig für die zentrale Verteidigung ausdrücklich nur die Namen von Antonio Rüdiger und Niklas Süle nannte, dann hat er sich bereits für Nebenleute des Dortmunders entschieden. Rüdiger hat sich beim FC Chelsea entwickelt, Süle ist noch lange nicht da, wo ihn der FC Bayern haben will. Hummels ist die große Hoffnung auf mehr defensive Klasse und Struktur. Das ist dringend nötig, wie nicht nur das deprimierende 0:6 gegen Spanien bewiesen hat. Löw hat sich selbst unter den Druck gesetzt, diese Formation nun sehr kurzfristig einspielen zu müssen.
Mittelfeld Löw vertraut auf jeden Fall Ilkay Gündogan, Toni Kroos und Joshua Kimmich. Von allen darf, muss er fußballerische Klasse und Führungsqualität erwarten. In ihren Vereinen zeigen sie das, in der Nationalmannschaft zuletzt nicht immer. Das Potenzial muss der Bundestrainer beleben. Ob sich alle drei in einem Team nebeneinander bewegen können, hängt auch davon ab, wie viel Offensive die Dfb-auswahl wagen darf.
Angriff Für den notwendigen Schuss Erfahrung, Ehrgeiz und Unberechenbarkeit hat Löw Weltmeister Müller nominiert. Für ihn gilt wie für Hummels Löws Wort vom Frühjahr: „Wenn man solche Spieler zurückholt, dann sind sie gesetzt.“In München hat Löws ehemaliger Assistent Hansi Flick Müller alle Freiheiten gegeben. Der Spieler zahlte mit Leistung und Torvorbereitungen zurück. Vielleicht wird Volland der zentrale Fixpunkt, um den herum Müller sein Spiel aufziehen kann. Für die Flügel hat Löw reichlich Auswahlmöglichkeit und vor allem Schnelligkeit. Dafür stehen Serge Gnabry, Leroy Sané und Timo Werner. Für so viel Talent wird Deutschland in Europa beneidet, auch wenn Marco Reus wegen zu hoher Belastung absagte. Das Talent seiner Nachfolger ist allerdings in jüngerer Vergangenheit nicht immer zuverlässig ausgeschöpft worden. Müller könnte dafür sorgen, weil er die Kollegen schon zu Höchstleistungen anhalten wird. Sicher ist: „Radio“Müller wird schon beim Training lautstark funken.
Allgemein Der Bundestrainer hat seinen nach 2018 angekündigten Neuanfang unterbrochen, auch weil er weiß, dass er Resultate benötigt und „dass wir die Fans wieder überzeugen müssen“. Dazu brauche es „eine Einheit, die vor Energie sprüht“. Schon jetzt ist er überzeugt, „dass die Spieler bereit sind“. Sogar die Sprache der jüngeren Fans bemühte der Coach: „Man spürt, dass die Spieler echt Bock haben.“Nicht nur in dieser Hinsicht sei sein „Gefühl sehr gut“, erklärte Löw.
Es ist dem Bundestrainer vielleicht sogar ganz recht, dass die Ergebnisse seine Mannschaft nicht in die Rolle eines Favoriten fürs Turnier gedrängt haben.
Und natürlich sagt er: „Wir wollen möglichst weit kommen.“Wenn „wir in einen Flow kommen, ist mit unserer Mannschaft alles möglich“. So ähnlich hat er sich auch vor dem Wm-turnier 2018 ausgedrückt. Das Ende ist bekannt.