Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Anton Segner ist in seiner Sportart ein Weltstar und kurz vor der Berufung zur besten Mannschaft der Welt.

Anton Segner aus Frankfurt galt als zu pummelig fürs Fußballspi­elen. Heute ist er im Rugby ein Weltstar und steht gegen jede Wahrschein­lichkeit kurz vor der Berufung zu den „All Blacks“– die beste Mannschaft der Welt.

- VON TOBIAS JOCHHEIM

WELLINGTON/FRANKFURT Es gibt nur wenige Länder, denen man sich als Talent in ihrer Lieblingss­portart noch mehr aufdrängen muss als Dirk Nowitzki der Basketball-bastion USA oder der kölsche Jung Leon Draisaitl dem Eishockey-eldorado Kanada. Neuseeland ist so ein Land. Rugby ist hier der Sphäre des gemeinen Sports entrückt; Rugby ist Religion.

Und die „All Blacks“, die ganz in schwarz gekleidete­n Nationalsp­ieler, sind seine Götter. Niemand hat öfter den Wm-pokal gewonnen, ihre Siegquote seit 1903 steht bei fast 80 Prozent, in der ewigen Weltrangli­ste stehen sie länger auf Rang eins als alle anderen Teams zusammen. Sie sind ein Mythos, der längst zur Marke geworden ist, in vielen Ländern bekannter als ihr Sport.

Nein, diese Mannschaft hat wirklich nicht gewartet auf einen Schuljunge­n aus Deutschlan­d, das in der Weltrangli­ste auf Platz 30 dümpelt, hinter Hongkong und der Schweiz, nur knapp vor Korea und Kenia. Doch jetzt ist Anton Segner aus Frankfurt da, und mit jedem Spiel kommen Gegner wie Experten schwerer an ihm vorbei.

Man muss sich Neuseeland als ein Land vorstellen, in dem Teenager, aber auch Kita-kinder, Familienvä­ter und Opas Rugby spielen, ständig und überall: Auf den ungezählte­n Dorfplätze­n sowieso, bei Frost und Nebel, Schlamm und Hitze. Aber auch auf Schulhöfen und -fluren, Wochenmärk­ten und Kirchhöfen, hinter Fish’n’chips-buden und Scheunen, zwischen Palmen und Schreibtis­chen, an Bushaltest­ellen und auf dem Deck von Fähren. Und falls ausnahmswe­ise kein Ball greifbar ist, dann träumen hunderttau­sende denselben Traum: Ein Mal nur im schwarzen Dress mit dem weißen Farnblatt auflaufen, vor dem Anpfiff den Maori-kriegstanz Haka zelebriere­n und die Gegner dann in einer irren Kombinatio­n von Wucht, Tempo und Finesse vom Feld fegen. Entspreche­nd groß ist die Zahl der Nachwuchs-talente in Neuseeland wie auch den eng verbundene­n Kleinstaat­en im Pazifik.

Natürlich scheitern die allermeist­en an diesem Traum. Kieran Manawatu scheiterte denkbar spät, Verletzung­en warfen das Talent auf den letzten Metern aus der Bahn. Aus einem Knochenjob in einer Fleischfab­rik holte ihn sein glückliche­rer Bruder nach Europa; als Entwicklun­gshelfer für das deutsche Rugby mischte er tatsächlic­h Bundesliga und Nationalma­nnschaft auf. Seine Mission aber, schrieb 2012 „Spiegel Online”, sei erst dann erfolgreic­h, wenn er um seinen eigenen Platz im Kader bangen müsse, weil „der deutsche Nachwuchs spielstark genug” sei.

Stattdesse­n kam, was keiner ahnen konnte: Manawatu entdeckte als Trainer beim SSC 1880 Frankfurt einen deutschen Jungen, der gut genug war, um es in Neuseeland zu schaffen. „Ich habe Anton gecoacht, seit er elf war”, erzählt Manawatu. „Er hatte so viel Talent, das in Deutschlan­d brach lag.” Zu jeder Online-übertragun­g eines AllBlacks-spiel lud der Coach damals seine Jungs zu sich nach Hause ein. Keiner schaute gebannter zu als Anton Segner. Bis er 15 war und das Zusehen satt hatte.

Nach Fürsprache von Kieran Manawatu und seinem Bruder Tim landet Segner 2017 am College im sonnenverw­öhnten Küstenstäd­tchen Nelson. Sechs Monate will er an der Kaderschmi­ede mit der 150-jährigen Rugby-tradition bleiben. „Wir wussten nicht recht, was wir von ihm erwarten konnten”, erinnert sich Peter Grigg, Sportliche­r Leiter der Rugby-abteilung, grinsend. „Auf den Videos, die wir von ihm gesehen hatten, sah er zwar gut aus – aber eben als großer, starker Junge gegen kleine deutsche Jungs…” Heute überschütt­et er Segner mit Lob: „Ein fantastisc­her junger Mann! Seine Hingabe. Sein Drive. Er gibt alles für diese Vision, die er drüben in Deutschlan­d hatte. Er hat das Zeug dazu, das Talent und das Know-how. Ich würde ihn liebend gern im schwarzen Dress sehen. Wenn es irgendjema­nd schaffen kann, dann er.”

Segners Leistungen auf dem Feld bringen ihm erst ein Stipendium ein und wenig später das Ehrenamt des Kapitäns. Sein Trainer bescheinig­t ihm starkes „Mana”. Der Begriff aus der polynesisc­hen Kultur beschreibt eine Art spirituell­e Energie, Autorität und Würde. Die emotionale Aura eines Anführers.

2018 darf Segner Neuseeland im Kader des Schüler-nationalte­ams repräsenti­eren – und punktet gegen die Hünen aus Tonga. Kein Wunder, mit zarten sechzehn wiegt Segner selbst bereits 107 Kilo bei einer Größe von 1,90 Metern. 2019 führt er sein Schulteam zur lange ersehnten Meistersch­aft. 2020 feiert er sein Profi-debüt, und wird mit den Tasman Mako neuseeländ­ischer Meister. Mehrmals loben die TV-KOMmentato­ren seinen couragiert­en Auftritt im Finalspiel, bei dem er viel Verantwort­ung übernimmt, immer wieder den Körperkont­akt sucht, Bälle erobert und sichert. Der Nachwuchst­rainer der Nationalma­nnschaft, Craig Philpott, adelt ihn in der altehrwürd­igen Zeitung „New Zealand Herald“: „Wir sehen Anton als wichtigen Teil des neuseeländ­ischen Rugbys in der Zukunft.“

Im März dieses Jahres wird er Kapitän der U-20 des Top-teams Crusaders, das in einer Art Champions League der besten Teams der Südhalbkug­el antritt. Vor wenigen Tagen dann folgt der bisherige Karrierehö­hepunkt: Segner wird auch in die U20-auswahl der All Blacks berufen. Die Staatsbürg­erschaft ist dafür nicht erforderli­ch, entscheide­nd ist einzig der Lebensmitt­elpunkt der vergangene­n Jahre. Und der ist bei Segner eben Neuseeland. Hier schlägt das Herz des Rugby, und hier hat ihn das halbe Land, beeindruck­t von seiner Geschichte, seiner Art und nicht zuletzt seinem breiten neuseeländ­ischen Akzent, praktisch adoptiert.

Nicht schlecht für einen Jungen aus der Rugby-diaspora am anderen Ende der Welt, den sie mit zehn im Fußballver­ein gehänselt hatten wegen seiner X-beine und seinem Übergewich­t.

 ?? FOTO: MICHAEL BRADLEY/GETTY IMAGES ?? Anton Segner setzt sich 2019 bei einem Spiel für die Schüler-nationalma­nnschaft Neuseeland­s gegen die Gegner durch.
FOTO: MICHAEL BRADLEY/GETTY IMAGES Anton Segner setzt sich 2019 bei einem Spiel für die Schüler-nationalma­nnschaft Neuseeland­s gegen die Gegner durch.

Newspapers in German

Newspapers from Germany