Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
LECH MICK!
Viele Kinder machen in diesen Tagen einen Corona-lolliTest. Ihre Mitarbeit ist meistens sehr gut, weil Dauerlutscher seit vielen Jahren zu unserer Alltagskultur zählen. Eine Zeitreise zu Lieutenant Kojak, Salvador Dalí und einem Olg-urteil.
Die älteren Kinder unter uns werden in diesen Tagen von sprachlichen Frühlingsstürmen umwogt. Wir reden wieder über sie, die gute alte Zeit, da man einen Rolli anzog, die Schauspielerin Gina Lollobrigida bewunderte, sich an Tante Polly erinnerte (bei „Tom Sawyer“), vom „Jolly Good Fellow“sang, sich eine Cola vom Trolley im Mallorca-flieger bestellte und einen Collie namens Lassie liebte. Und wenn in Berlin mal wieder ein Molli flog, sagte mein Vater: „Mein lieber Scholli!“
Sagten wir damals „Lolli“oder „Lutscher“oder gar „Dauerlutscher“? Ich weiß es nicht mehr, zumal es landschaftliche Besonderheiten gibt. Im Allgäu sagen sie „Schlotzer“, in Österreich „Schlecker“, in der Schweiz „Schleckstengel“; die Ddr-wortwahl ordnete etwas spaßfrei, doch höchst korrekt das „Fruchtstielbonbon“an. Ich erinnere mich jedenfalls an ekelhafte Süßstoffkirschen, die wie farblich mutierte Kürbisköpfchen auf dünnen Stäbchen steckten. Oder an ovale Flachgebilde, die man einer durchsichtigen, sehr klebrigen Verpackung entreißen musste. Heute ist der Lolli eine Sensation für die Sinne, die aus den verwegensten Komponenten besteht und mit zahllosen Aromen prahlt.
Sprachlich ist der Drops längst gelutscht: „Lolli“sagen wir, keine Frage, „Lolli“klingt cool, fruchtig, biegsam, modern. So gibt es anfangs zarte Produktenttäuschungen, wenn Kinder heutzutage zum Corona-lolli-test geködert werden, aber sich der verheißene Lolli nur als sogenanntes Abstrichstäbchen herausstellt, das weder nach Waldmeister noch nach Stracciatella, geschweige denn nach Maracuja schmeckt, sondern nach nichts. Oder nach ein bisschen kalter Chemie.
Andererseits garantiert ein medizinischer Lolli, mit dem eine Speichelprobe fürs Labor gewonnen wird, einen erfreulichen Erlebniswert. Vor allem im Vergleich zu jenen Wattetupfern, die hoch in die Nase oder tief in den Rachen geschoben werden. Seit die Wissenschaft festgestellt hat, dass das Coronavirus auch die Zellen der Mundschleimhaut zur Vervielfältigung nutzt, kann das Gebiet rund um die Zunge ebenfalls zur Sekretgewinnung genutzt werden, wie es so schön und unappetitlich heißt.
Die kindlichen Probanden, so hört man dieser Tage im Verwandten- und Bekanntenkreis, reagieren auf den Lolli, der keiner ist, fast immer spielerisch und gelassen. Die meisten Kinder scheinen zu wissen, dass dieses komplett vergnügungsfreie Kunststoffteil keinen Genuss an sich bietet, sondern ein Mittel zum Zweck ist – nämlich ihnen die Rückkehr in ein seit Langem vermisstes Miteinander zu gewähren.
Während die Kinder auf dem Lolli rumkauen, denken wir auf ihm herum. Und in der Tat, er animiert einen zu einer geschmacksintensiven Assoziationskette, zu einem Bilderszenario, das eine bestimmte Szene in den 70er-jahren wachruft. Damals kurbelte abends um 21 Uhr in der ARD ein Glatzkopf mit der linken Hand das Seitenfenster seines flunderhaften Ami-schlittens runter, pappte das Signallicht mitsamt Spiralkabel aufs Dach, ließ die Sirene aufheulen und jagte mit Lutscher im Mund Ganoven. Damals lief die Tv-serie „Einsatz in Manhattan“, und der Mann war Telly Savalas alias Lieutenant Theo Kojak. Zwar hatte er einige Detectives um sich herum, etwa die Herren Crocker und Stavros, doch die waren nur Komparsen. Kojak fuhr fast immer allein, der Lolli war sein Harry, sein Matula. Er gab ihm Ratschläge, leistete seinem Mundraum Gesellschaft, er hätschelte das Kind im Manne. Der Lolli zeigte, dass Kojak seine Arbeit genoss. Seine bleckenden Zahnreihen ließen ahnen, dass Karies keine Rolle spielte. Und wenn ihm dann sein legendäres, breit gegrinstes „Entzückend, Baby“entfuhr, dann wusste man: Der Broadway wird gleich einen Schurken weniger haben.
Kojak zelebrierte seinen Lolli, er verzehrte ihn ja nicht, sondern ließ ihn langsam und genussvoll zergehen. Bei unsereinem gab es Momente der Euphorie vor allem, wenn wir ein Riesenteil als Gewinn bei der Kirmes schossen, einen Lutscher von der Größe einer Kaffeeuntertasse, der mit Sinnsprüchen beschriftet war. Schon damals ahnten wir, dass hier eine tüchtige Industrie tätig war, die nichts anderes interessierte als die vollständige Eroberung unseres Mundraums; die frühkindlichen Saug- und Knabberreflexe des Menschen wollte sie möglichst lebenslänglich ausdehnen.
Jene 70er-jahre waren auch die Zeit, da die spanische Firma Chupa Chups ihren Siegeszug um die Welt antrat. Deren Produktdesigner waren die Parfümeure unter den Süßstoffherstellern, und sie hatten eine Waffe im Halfter, die sie sogar jedem zeigten, der sie nicht sehen wollte: die Optik. Den ChupaChups-look hatte nämlich der berühmte Surrealist Salvador Dalí entworfen: eine psychedelisch berauschte Gehirnwolke, die – so die Idee der Planer – das erwünschte Ergebnis häufigen Lutschens sei. Das erste Marketing fürs Produkt hatte zwar unter dem etwas dämlichen Titel „Es ist rund und langanhaltend“gestanden, aber später wussten alle, was diese Werbung bedeutete: Leck mich! Irgendwann wurde sogar Madonna für die Werbung angeheuert.
In den 1980ern waren es dann abermals die Chupa-chups-strategen, die angesichts fallender Geburtenraten mit neuartigen Antirauch-slogans auch erwachsene Konsumenten anlocken wollten. Tatsächlich gilt noch heute der alte Surrogat-spruch: Wer lutscht, raucht nicht. Und damit der Zahnarzt nicht bohren muss, gibt es längst Lollis, die der Zahnhygiene dienlich sind – weil sie zuckerfrei den Säurespiegel im Mund regulieren, die Zähne vor Karies schützen und deren Mineralisierung fördern. Damit es an Geschmack nicht mangelt, gibt es etwa die Nuancen Zitrone, Erdbeere und Himbeere, wahlweise mit Salbei- oder Thymian-zusatz, damit auch der Hals vom Lutschen profitiert.
Wie war Meister Dalí auf seine Bildidee gekommen? Vielleicht hatte er die Chordettes gehört, jenes Us-amerikanische weibliche Gesangsquartett, das mit „Mr. Sandman“und vor allem mit „Lollipop“(1958) berühmt wurde; „Lollipop“mit der Kurzform „Lolli“ist die englische Version von „Lutscher“. Dieses einfältige Stückchen mit seiner zähneziehenden Lolli-litanei und dem Plopp-geräusch nach dem Refrain war angeblich nur auf die Welt gekommen, weil der Komponist Julius Dixson daheim Ärger mit seiner Tochter gehabt hatte: Bei ihr hatte sich ein besonders klebriges Lolli-exemplar in den Haaren verfangen. Der Text fügt dem Leckerli übrigens einen weiteren Kaufanreiz hinzu: Wer Lollis lutscht, den küsst man gern. Von diesen Gedanken ließen sich auch später Mädchenbands leiten: Gleich mehrere hießen Lollipop(s). Jede der Sängerinnen wollte Prinzessin Lollifee sein.
So wenig Gewicht ein Lolli auf die Waage bringt, eine ernste Angelegenheit ist er trotzdem. Ein Lolli ohne Stiel ist nicht nur ein Lolli ohne Stil, er ist gar keiner. Das hat schon das Oberlandesgericht Köln vor genau 20 Jahren in einer bizarren Urteilsbegründung dargelegt: „Der Stiel ist wesenstypisches Merkmal des Lutschers. Ohne einen solchen Stiel würde es sich nicht mehr um einen traditionellen Lutscher, sondern vielmehr um ein gewöhnliches Bonbon handeln.“Wir bewundern die Weisheit des Senats, die Materie war nämlich very tricky. Es ging um die Frage, ob für die Stiele von Lutschern Lizenzgebühren für das Zeichen „Der grüne Punkt“an das Duale System Deutschland zu entrichten seien. Das OLG Köln meinte, dass der Lolli-stiel Teil des Lutschers sei und nicht dessen Verpackung. Das Urteil gipfelte in dem grandiosen, unmittelbar einleuchtenden Satz: „Die Ware kann nicht zugleich Verpackung sein.“
In England tragen Schülerlotsen übrigens ein mannshohes Stoppschild, das wie eine riesige Polizeikelle aussieht. Deshalb heißen sie „Lollipop men“. Apropos Straßenverkehr: Für Lieutenant Theo Kojak waren Bonbon und Stiel ein Gesamtgenusskunstwerk, von dem am Ende nur der Pinn übrig blieb. Der dann sehr elegant und zielsicher durchs offene Fahrerfenster in einen Mülleimer am Broadway flog. Dann schob Kojak den nächsten Lolli rein. Damit aus seinem Glatzkopf wenigstens eine kleine Antenne herausragte.