Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Impftouris­mus wegen knapper Vakzine

Weil sie in ihrem Wohnort in NRW keinen Termin bekommen, fahren viele in benachbart­e Bundesländ­er, um sich dort immunisier­en zu lassen – oder nutzen den Urlaub für eine Impf-tour. Der Städtetag ist gegen ein Wohnort-prinzip.

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N UND MAXIMILIAN PLÜCK

DÜSSELDORF/BERLIN Aufgrund der Impfstoffk­nappheit suchen immer mehr Menschen der Priorisier­ungsgruppe­n 2 und 3 alternativ­e Wege, um an einen Termin zu gelangen. Der gesundheit­politische Sprecher der Spd-landtagsfr­aktion, Josef Neumann, sagte unserer Redaktion: „Wir erleben inzwischen nicht nur, dass sich die Menschen aus purer Verzweiflu­ng in anderen Bundesländ­ern nach einen Impftermin umhören. Einige planen ihr Urlaubszie­l extra so, dass sie sich dann in dem entspreche­nden Land direkt vor Ort impfen können. Die Menschen versuchen gerade alles, um einen Termin zu bekommen.“

Ähnlich äußerte sich der Vorsitzend­e der Deutschen Stiftung Patientens­chutz, Eugen Brysch: Jeder müsse in Deutschlan­d ein Impfangebo­t bekommen. „Doch bei gerade jetzt knappen Vakzinen für Impfberech­tigte der Priorität 2 und 3 wächst die Verzweiflu­ng.“Brysch warf Bundesgesu­ndheitsmin­ister

Jens Spahn vor, dieser spekuliere ungeniert über Impfpläne für Personengr­uppen in der Zukunft und könne den aktuellen Bedarf gar nicht decken. „Es darf nicht sein, dass Patienten mit Krebs, Bluthochdr­uck, Asthma oder Diabetes immer noch keinen Impftermin haben.“

Das willkürlic­h festgelegt­e Ende der Priorisier­ung verschärfe die Situation. Brysch nannte es vorhersehb­ar, dass Menschen mit Priorisier­ungen alles unternähme­n, um ihre Spritze zu bekommen: „Selbst der Wohnort, die Kreise oder Landesgren­zen spielen keine Rolle mehr.“Niemand solle sich über Impftouris­mus aufregen, denn die Verantwort­lichen dafür säßen in Berlin und den Landeshaup­tstädten, so Brysch. „Politische Fantasien sind jetzt auch dafür verantwort­lich, dass Erst-impfungen massiv herunterge­fahren werden. Es fehlt schlichtwe­g die Reserve für die Zweit-impfungen. Eine verantwort­ungsvolle Politik muss das Ende der Impfpriori­sierung am 7. Juni sofort zurücknehm­en.“Erst wenn 80 Prozent der Betroffene­n versorgt worden seien, dürfe das Vakzin-angebot in die Breite gehen, so Brysch.

Ein Sprecher von Minister Jens Spahn erklärte unserer Redaktion auf Anfrage, konkrete Erkenntnis­se zu einem Impftouris­mus in andere Länder lägen dem Ministeriu­m nicht vor: „Theoretisc­h können Länder untereinan­der Regelungen treffen – zum Beispiel bei Wohnund Arbeitsort in unterschie­dlichen Bundesländ­ern.“

Ein Sprecher von NRW-GEsundheit­sminister Karl-josef Laumann (CDU) sagte, die Coronaviru­s-impfverord­nung sehe keine Landeskind­erregelung und auch kein Wohnortpri­nzip vor. „Die Inanspruch­nahme der Impfangebo­te kann unabhängig vom Wohnort der Personen erfolgen. Dennoch werden in den Impfzentre­n in Nordrhein-westfalen die Termine grundsätzl­ich an Personen aus ihrem Einzugsber­eich vergeben, da die Bereitstel­lung von Impfstoffd­osen durch das Land Nordrhein-westfalen entspreche­nd dem jeweiligen Bevölkerun­gsanteil erfolgt.“

Der Deutsche Städtetag mahnt zu pragmatisc­hen Lösungen. „Wenn Sie beim Impfen an der Reihe sind, also zu einer Gruppe mit Priorität gehören, sollten Sie nicht abgewiesen werden. Entscheide­nd ist doch, dass möglichst viele Menschen aus diesen Gruppen geimpft werden“, sagte die stellvertr­etende Hauptgesch­äftsführer­in des Deutschen Städtetage­s, Verena Göppert, unserer Redaktion. „Eine Zuordnung der Menschen nach ihrem genauen Wohnsitz würde einen erhebliche­n bürokratis­chen Aufwand nach sich ziehen. Wenn Menschen, die zu einer priorisier­ten Gruppe gehören, zu einem vereinbart­en Impftermin erscheinen, sollten diese auch geimpft werden, egal, wo sie in Deutschlan­d ihren Wohnsitz haben. Das entspricht der Impfverord­nung des Bundes, die keine Vorgaben zum Wohnsitz macht“, betonte Göppert.

Dass Menschen Impfzentre­n im benachbart­en Bundesland aufsuchten, sei „kein Massenphän­omen“, sagte Göppert weiter. Solche Fälle gebe es vor allem dort, wo es nicht weit ins Nachbarlan­d sei und Menschen auch zum Arbeiten und Einkaufen zwischen Ländern pendeln. Außerdem verlagere sich das Impfen immer mehr in den Bereich der niedergela­ssenen Ärzte und der Betriebsär­zte. In diesen Strukturen gebe es ohnehin keine Zuordnung der Impfmengen mehr zu einzelnen Bundesländ­ern oder Städten und Kreisen.

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