Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Flucht über den Rio Grande
In Roma ist es relativ leicht, den Rio Grande zu überqueren. In der Nähe der Klippen liegt eine Insel im Fluss, von dort sind es vielleicht 20 Meter zu dem einen wie dem anderen Ufer. Am amerikanischen kleben noch die Plastikbänder im lehmigen Schlamm, blassgrüne Bänder, die sich Migranten der Kategorie Entregas von den Handgelenken reißen, sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen haben.
Auch Carmen, die ihren Nachnamen nicht veröffentlicht sehen will, kam im Boot über den Fluss. Die zierliche Frau stammt aus Nicaragua, aus Chinandega. Vier Wochen lang war sie unterwegs, mal in Bussen, mal zu Fuß, ehe sie den Rio Grande erreichte. An ihrer Seite Javier, der 16-jährige Sohn, ihr Ältester. Der Jüngere, Franklin, 14, blieb in der Obhut ihrer Eltern in Chinandega zurück. Ein in Miami lebender Neffe, erzählt Carmen, habe die Schleuser bezahlt. 6000 Dollar für sie, noch einmal 6000 für Javier. Für Franklin habe das Geld nicht gereicht. „Ich werde ihn nachholen, sobald ich die Summe beisammen habe“, sagt seine Mutter, dann bricht ihre Stimme. Aus Nicaragua, sagt sie, als sie wieder reden kann, sei sie wegen des Präsidenten geflohen, wegen Daniel Ortega, der die Korruption derart wuchern lasse, dass sie für ihre Söhne in dem Land keine Perspektive mehr sehe. Ihr Mann, erzählt sie noch, sei an einer Lungenentzündung gestorben. Nach seinem Tod habe sie beschlossen, sich sie negativ auf Corona getestet worden waren, ging es weiter in eine Notunterkunft, die eine kirchliche Hilfsorganisation namens Catholic Charities in der Grenzstadt Mcallen betreibt. Der Neffe wurde verständigt, er buchte die Tickets für die Greyhound-fernbusse, die Carmen und ihren Sohn nach Miami bringen. Carmens Füße stecken in blütenweißen Turnschuhen, Javier trägt Jeans, die etwas zu weit für ihn sind. Spendersachen. Als die beiden für ein Gespräch vor die Tür ihres Domizils treten, treffen dort gerade drei Männer ein. Ein Pfarrer und zwei Mitglieder seiner Gemeinde, die etwas vom Kochen verstehen. 450 Portionen, Hähnchen mit Reis und Bohnen, hätten sie heute zubereitet, erzählt Scott Tidwell, der Geistliche. Mittwochs reist das Trio an, aus der Nähe der Stadt Austin, fünf Stunden ist es auf der Autobahn unterwegs, samstags geht es zurück. Hilda Garza De Shazo sitzt an einem Beratungstisch unter den Porträts von Abraham Lincoln und Ronald Reagan, den Säulenheiligen der Republikaner. Eine elegante Dame, einst Lehrerin und Schuldirektorin, heute Lokalchefin ihrer Partei in Mcallen. Ihre Vorfahren, ausnahmslos alle, stammen aus Mexiko. Dennoch verteidigt sie Donald Trumps harte Linie in der Einwanderungspolitik. „Biden hat die Schleusen geöffnet“, schimpft sie. Er habe das falsche Signal gesetzt, als er Eltern mit Kindern grünes Licht für den illegalen Grenzübertritt gab. „Dabei werden die Kinder doch nur benutzt. Erinnern Sie sich an den Film ,Titanic’? An den reichen Schnösel, der sich ein Kind schnappt, um einen Platz im Rettungsboot zu ergattern? So läuft das auch hier.“Hätte Hilda Garza De Shazo in Washington etwas zu sagen, wüsste sie, was sie täte. „Mexiko und den Zentralamerikanern den Geldhahn abdrehen, sämtliche Hilfsgelder streichen, solange sie massenhaft Migranten durchlassen.“
Freddy Guerra glaubt, dass der Brechstangen-ansatz das Problem verschlimmern würde. „Je prekärer die Lage, desto größer der Flüchtlingsstrom, das ist die Wahrheit,“sagt er. Guerras Büro liegt in der Altstadt von Roma, umgeben von kleinen Palästen, deren Fassaden in Pastellfarben leuchten, Rosa, Ockergelb und Himmelblau. Guerra, de facto der Cheforganisator im Rathaus, hat gegen Trumps Mauerpläne geklagt. Die Bundesregierung beanspruchte Grundstücke am Fluss, die entweder der Stadt oder Privatleuten gehörten, um darauf einen neun Meter hohen Stahlzaun zu errichten. In solchen Fällen, das war Guerra von vornherein klar, gewinnt am Ende immer der Staat. Vor Gericht sind sie dennoch gezogen, um sich beim Verkauf nicht zu billig abspeisen zu lassen. Die Entwürfe für den Zaun lagen fertig in den Schubladen, die Aufträge waren vergeben: „Säße Trump heute noch im Oval Office, wären längst die Bagger am Werk.“
Biden legte die Pläne auf Eis. Allerdings, so Guerra, habe er bisher nicht gesagt, dass er definitiv auf den Mauerbau verzichte. Verfahren, in denen der Staat den Grundstückserwerb durchsetzen will, laufen weiter. „Alles hängt in der Schwebe“, fasst Guerra die Lage zusammen und erklärt, warum eine künstliche Barriere am Kern des Problems nichts ändern würde. Asylsuchende hätten nach der Flussüberquerung so oder so amerikanischen Boden erreicht. Die Patrouillen müssten sich auch dann um sie kümmern, wenn ihnen ein neun Meter hohes Hindernis den Weg versperre.
Um zu zeigen, wie komplex die Realität ist, fährt Dina Garcia-pena zu einem Landschaftspark am Fluss. Stromschnellen, Reiher mit schneeweißem Gefieder, Picknickbänke zwischen Mesquite-bäumen. Der Besitzer des Areals nimmt pro Person zwei Dollar Eintritt. „Das Hauptgeschäft beginnt wohl nach Sonnenuntergang, wenn hier keiner mehr Zutritt hat“, vermutet Garcia-pena. Drogenkartelle steuerten das Idyll gezielt an und zahlten dafür einen Obolus, sicher mehr als nur ein paar Dollar. „Überhaupt, die Kartelle. Sie haben ihre Finger in jedem Teig. Lokalpolitiker lassen sich von ihnen schmieren, weil sie Geld für den Wahlkampf brauchen, wenn sie ein Wahlamt anstreben.“
Der Schmuggel, ob von Menschen oder von Rauschgift, will die Reporterin deutlich machen, ist ein grenzübergreifendes Geschäft, ein überaus lukratives. Zum komplizierten Befund gehört auch dies: Im November holte Trump im Starr County, dem Landkreis, in dem Roma liegt, 47 Prozent der Stimmen, nachdem er 2016 im Duell mit Hillary Clinton gerade mal auf 28 Prozent gekommen war. Und das, obwohl neun von zehn Bewohnern Latinos sind, deren Vorfahren aus dem Süden stammen. So wie Dina und Jorge, ihr vor 20 Jahren illegal eingewanderter Ehemann. Die Gründe für die Flucht verstehe sie nur zu gut, betont Dina Garcia-pena. Aber manchmal kämen 400 Migranten in einer Gruppe. „Da fragen die Leute, Moment mal, hat das überhaupt noch jemand im Griff?“
Roy Snipes läuft mit Cowboyhut über eine Wiese zu seiner Morgenandacht. Wenn er predigt, liegen Bendito, Charlotte und Wiglet, drei von ihm gerettete Hunde, vor dem Altar der kleinen Kapelle La Lomita. Bis zum Rio Grande sind es nur ein paar Hundert Meter, und wäre es nach Trump gegangen, läge La Lomita heute hinter einem Zaun aus Stahl. Abgeschnitten von der Kleinstadt Mission, deren südliches Ende das Gotteshaus bildet. Praktisch im Niemandsland. Allein schon symbolisch, sagt der Pater, hätte das Stahlmonster allem widersprochen, was Amerika mit der Freiheitsstatue vor New York doch eigentlich sein wolle. „Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren“, zitiert er die Worte, die auf dem Sockel von Lady Liberty stehen. „Und was sagt die Mauer? Dass wir es geschafft haben und von Habenichtsen nicht belästigt werden wollen. Als würde der fette, erfolgreiche, wohlhabende Mann sagen: Ich habe es verdient, fett, erfolgreich und wohlhabend zu sein. Und der arme Schlucker, der ums Überleben kämpft, der geht mich nichts an.“Pater Roy kann sich in Rage reden, wenn er unter einem Bild seines Idols John Wayne im Büro sitzt und die Trump-jahre Revue passieren lasst. Der Mann, hört er noch heute, auch von Leuten, die seine Gottesdienste besuchen, sei ein guter Arzt. Schreckliche Manieren, aber die richtigen Rezepte. „Ich weiß nicht“, sagt Snipes. „Ich glaube immer, das Licht ist stärker als die Finsternis. Aber manchmal wundert man sich.“