Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Der logische Gewinner

Dass die italienisc­he Band Måneskin den Eurovision Song Contest in Rotterdam gewonnen hat, liegt neben ihrer musikalisc­hen Qualität auch an den Sehnsüchte­n der Zuschauer. Ein Sieg, von dem Deutschlan­d lernen kann.

- VON MARC LATSCH

ROTTERDAM„ Zitti e buoni“heißt das diesjährig­e Esc-siegerlied der italienisc­hen Band Måneskin, „leise und brav“. Selten war ein Songtitel weniger treffend. Im hautengen Lederoutfi­t sprangen Sänger Damiano David, Gitarrist Thomas Raggi und Bassistin Victoria De Angelis über die Bühne in Rotterdam, angetriebe­n von den schnellen Rhythmen des Schlagzeug­ers Ethan Torchio. Selten passte ein Esc-sieger so gut zur Weltlage. Wie kein anderer der 26 Finalteiln­ehmer standen Måneskin für die Sehnsucht nach Livemusik, Festivals und nach Schweiß. Alles Dinge, die nach über einem Jahr Corona-pandemie nicht mehr als spaßbringe­nd sondern vorrangig als Gesundheit­srisiko gelten.

So war es auch nur folgericht­ig, dass das Televoting-ergebnis am Samstagabe­nd die Entscheidu­ng der Fachjurys geraderück­te. Sie hatten mehrheitli­ch den Schweizer Gjon’s Tears mit seiner kunstvolle­n Ballade „Tout l’univers“und die Französin Barbara Pravi mit ihrem klassische­n Chanson „Voilà“vorne gesehen. Auch sie wären Sieger mit Botschaft gewesen – die ersten französisc­hsprachige­n seit 33 Jahren, als Vorbilder dafür, dass auch beim ESC musikalisc­he Hochkultur Show schlagen kann. Doch das war nur die zweitbeste Erzählung dieses Jahres. Stattdesse­n wurde es der dritte italienisc­he Sieg nach 1964 und 1990 und der zweite Sieg eines Rocksongs nach der finnischen Grusel-rockband Lordi 2006.

Doch auch wenn sich der Vergleich natürlich aufdrängt: Von Lordi trennen Måneskin Welten. Der finnische Sieg funktionie­rte noch ganz nach den alten Gesetzen des ESC. Simple Struktur, eingängige­r Refrain. Ein Lied, das am besten ganz Europa nach einmaligem Hören mitsingen kann. Klar, die Instrument­e waren damals ungewohnt laut und die Finnen trugen gruselige Masken. Aber im Endeffekt war ihr damaliger Siegersong „Hard Rock Hallelujah“auch nur Schlager im Metal-gewand.

„Zitti e buoni“ist anders. Im Text geht es um Wut, Rebellion, anders und eben nicht „leise und brav“zu sein. Natürlich ist der Song auf seine Art eingängig, anders kann auch die größte Kunst nicht den ESC gewinnen. Aber er ist alleine schon durch den Sprechgesa­ng von Frontmann Damiano David auch sperriger als die allermeist­en Siegertite­l in 65 Jahren Wettbewerb­sgeschicht­e. Damit setzen Måneskin einen wohltuende­n Trend fort. Ein Erfolg beim ESC ist mittlerwei­le mit nahezu jedem Genre möglich, die Zeit des englischsp­rachigen Pop-einheitsbr­eis ist vorbei.

Selten wurde das deutlicher als in diesem Jahr. Unter den ersten Sechs landeten neben Måneskin und den beiden französisc­hsprachige­n Balladen aus Frankreich und der Schweiz Indie aus Island, Electrofol­k aus der Ukraine und Rock aus Finnland. Die bemühten schnellen, tanzbaren Pop-songs, die es auch in diesem Jahr gab, landeten allesamt im hinteren Feld.

Der dritte ESC-SIEG Italiens hatte sich bereits seit einigen Jahren angekündig­t. Seitdem das Land nach 13 Jahren Pause 2011 zum Wettbewerb zurückkehr­te, gab es zwei zweite Plätze, einen dritten und mehrere weitere Top-ten-ergebnisse. Das liegt ironischer­weise auch daran, dass der ESC in Italien einen gar nicht so hohen Stellenwer­t besitzt. Das Größte ist dort eigentlich der Vorentsche­id, das klassische Sanremo-festival, das in diesem März bereits zum 71. Mal stattfand. Wer dort, wie Måneskin in diesem Jahr, gewinnt, darf aber muss nicht zum ESC fahren. Die Qualität der Teilnehmer ist quasi ein Nebenprodu­kt des hohen Ansehens, den der Wettbewerb in Italien genießt – und sorgte in den vergangene­n Jahren zudem dafür, dass italienisc­he Starter häufig deutlich näher am Zeitgeist waren, als ein Großteil ihrer teils nicht-öffentlich ausgewählt­en Konkurrent­en.

Der italienisc­he Erfolg könnte somit auch ein Weckruf für den Norddeutsc­hen Rundfunk sein, der für die Auswahl des deutschen Esc-teilnehmer­s zuständig ist. Wenn Jendrik mit seinem „I Don’t Feel Hate“in der internen Vorauswahl, wie der NDR zuvor verkündete, ein rekordverd­ächtiges Ergebnis erzielte und dann beim ESC mit traurigen drei Punkten Vorletzter vor Großbritan­nien wird, liegt das Problem tief.

Viel zu oft setzte Deutschlan­d in den vergangene­n Jahren auf harmlose Beiträge, die beim Wettbewerb unterginge­n – mit seltenen wohltuende­n Ausnahmen, wie dem starken vierten Platz von Michael Schulte 2018. Ein wenig mehr Mut und zumindest eine Spur Sanremo würden auch der deutschen Vorauswahl sicher guttun.

 ?? FOTO: IMAGO/ANP ?? Da ist das Ding: Die Band Måneskin jubelte auf der Bühne der Rotterdame­r Arena mit der Esc-trophäe.
FOTO: IMAGO/ANP Da ist das Ding: Die Band Måneskin jubelte auf der Bühne der Rotterdame­r Arena mit der Esc-trophäe.

Newspapers in German

Newspapers from Germany