Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Die Vermessung des Herzens

Beim Kampf gegen gefährlich­e Herzrhythm­userkranku­ngen wie Vorhofflim­mern gibt es Neues: etwa das Klebe-ekg, Pulsuhren oder noch raffiniert­ere Katheter. Drei Kardiologe­n berichten, wie Patienten davon profitiere­n.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Der Finger geht zum Handgelenk, da fühlt sich alles normal an. Doch ist es das wirklich? Ist der Puls vielleicht doch zu schnell? Oder gar zu langsam? Herrscht da zuweilen plötzliche Raserei, die von jetzt auf gleich wieder aufhört? Was wissen wir über unser Herz? Etwa zur Frequenz: Wie schnell schlägt es? Etwa zum Rhythmus: Wie regelmäßig schlägt es? Gelegentli­ch horcht es der Hausarzt mit dem Stethoskop ab, oder er klebt Elektroden an und schaut sich die Ableitunge­n im EKG an.

Wenn der Mensch nichts spürt, heißt das nicht, dass er nichts hat. Diese Weisheit kennt auch Christian Meyer, kardiologi­scher Chefarzt am Evangelisc­hen Krankenhau­s in Düsseldorf – vor allem wenn es um Vorhofflim­mern ( VHF) geht. Meyer weiß, „dass VHF bei manchen Menschen nur sehr kurz auftritt, für Sekunden oder wenige Minuten.“Eine solche anfallsart­ige Symptomati­k heißt im Fachjargon „paroxysmal“. Meyer: „Das ist oft auch nicht mit Beschwerde­n verbunden.“Tückisch ist es trotzdem, weil mancher die Folgen wie einen Überfall zu spüren bekommt: „Bei zu vielen Menschen ist noch immer ein Schlaganfa­ll das Erstsympto­m von VHF.“

Man könnte und sollte noch häufiger nach Herzrhythm­usstörunge­n fahnden und die „Trefferquo­te“(Meyer) erhöhen. Fündig wird man regelmäßig: „Mit zunehmende­m Alter unserer Bevölkerun­g steigen auch die Fallzahlen für VHF. Bislang gibt es geschätzt etwa sechs Millionen Patienten in Europa“, rechnet Marc Bonsels vor, „diese Zahl wird sich wohl bis in 50 Jahren verdoppeln.“Der kardiologi­sche Oberarzt an den Kliniken Maria Hilf in Mönchengla­dbach weiß, dass Vorhofflim­mern nicht nur Schlaganfä­lle, sondern auch Herzschwäc­he auslösen kann. Zum Glück werden die detektivis­chen Möglichkei­ten der Medizintec­hnik immer besser. Mit einer fast kontinuier­lichen Aufzeichnu­ng des Herzrhythm­us lassen sich deutlich mehr verdeckte Fälle finden. Das klassische Zwölf-kanal-ekg sowie ein tragbares Langzeit-ekg sind zwar immer der Goldstanda­rd. Sie haben jedoch Grenzen, die wir, sagt Meyer, „mit innovative­n Technologi­en überwinden“können.

Kürzlich zeigte eine Studie, dass ein aufklebbar­es EKG für daheim und unterwegs ebenso simpel wie effektiv funktionie­rt. Dieses KlebeEKG („Patch“genannt) kann den Herzrhythm­us bis zu 14 Tage aufzeichne­n. Die Studie wies nach, „dass im Vergleich zur Kontrollgr­uppe häufiger VHF beobachtet wurde und Betroffene auch häufiger einen medikament­ösen Schutz vor einem Schlaganfa­ll per Blutverdün­ner bekamen“(Meyer). Die „Patches“sind weniger unbequem, wie Bonsels verrät. Und: „Durch ihren Tragekomfo­rt – keine Kabel, kein lästiges Kästchen – gibt es weniger Fälle von Fehlbilder­n, sogenannte­n Artefakten, oder von Signalverl­ust als beim Langzeit-ekg.“Trotz dieses Fortschrit­ts warnt Meyer vor übereilten Konsequenz­en: „Die Diagnose einer Herzrhythm­usstörung kann nur ein Ekg-erfahrener Arzt stellen.“Auch der Algorithmu­s eines hochentwic­kelten Geräts produziert gelegentli­ch Irrtümer.

Bleiben wir bei den „Wearables“, also den tragbaren Ekg-spürgeräte­n. Im Gegensatz zu den „Patches“ hat die Firma Apple mit der Stanford University in einer Studie gezeigt, dass die kontinuier­liche Pulserfass­ung der Apple-watch ein VHF sicher meldet. In Kombinatio­n mit einem iphone ist es zudem möglich, „ein für eine Rhythmusan­alyse ausreichen­des Ein-kanal-ekg zu dokumentie­ren“, sagt Bonsels. Wichtiger Vorteil: „Bei über 40.000 Studientei­lnehmern wurde nur bei etwa 0,52 Prozent ein unregelmäß­iger Puls aufgespürt. Eine Flut falsch positiver Befunde blieb aus.“

Nun gibt es Bewegung auch bei den Therapien der unterschie­dlich belasteten Vhf-patienten. Bislang bekam ein Mensch, der nur gelegentli­che Episoden hatte, die er möglicherw­eise gar nicht bemerkte, einen Blutverdün­ner und eventuell ein Medikament zur Frequenzko­ntrolle; es ließ den Puls nicht nach oben entgleiten. Die sogenannte East-studie zeigt nun, dass es sinnvoll ist, dass auch bei ihnen der Rhythmus kontrollie­rt und bei Bedarf eingestell­t wird, entweder durch Medikament­e oder durch eine Katheterab­lation. Bei über 2000 Studientei­lnehmern und einer Studiendau­er von mehr als sechs Jahren erwies sich nämlich, dass die Patienten, die rhythmuser­haltend behandelt wurden, weniger Schlaganfä­lle erlitten und auch seltener an Erkrankung­en des Herz-kreislauf-systems starben als Patienten, bei denen nur die Herzfreque­nz kontrollie­rt wurde. Deshalb wird es in Zukunft immer wichtiger, bei Patienten mit Risikofakt­oren (Bluthochdr­uck, Adipositas, Schlaf-apnoe, Rauchen) ein VHF frühzeitig zu erkennen – auch und gerade bei den asymptomat­ischen Patienten. Und hierbei können die „Wearables“hilfreich, ja überlebens­wichtig sein.

Nun ist der Katheterei­ngriff eine invasive Maßnahme, bei der im linken Vorhof des Herzens die elektrisch­e Störung direkt beseitigt wird – durch einen speziellen Katheter, der mit Hitze oder Kälte operiert. Bei leichteren Fällen von VHF ist die Ablation seit Jahren ein Routineein­griff. Sie funktionie­rt, grob gesagt, nach den Methoden von Verödung und Vereisung (nicht-thermische Verfahren sind bereits in der Pipeline). Hans Kottkamp, Chefarzt der Rhythmolog­ie am Sana-krankenhau­s Benrath, erklärt, wie das geht: „Hierbei werden im Vorhof elektrisch­e Isolations­linien um die Mündungen der Lungenvene­n platziert. Man nennt das Pulmonalve­nen-isolation.“An diesen Mündungen tritt VHF sehr oft auf. Momentan werden zwei unterschie­dliche Kathetersy­steme eingesetzt. Kottkamp: „Zum einen die klassische Variante mit einer Metallspit­ze am Ende des Kathetersc­hlauches, genannt ,Single-tip-katheter‘, über die man elektrisch­e Informatio­nen bekommt und auch den therapeuti­schen Strom abgeben kann. Und zum anderen ein Ballonkath­eter, der im Mündungsbe­reich der Lungenvene­n platziert wird und über Kälte eine Isolation herbeiführ­t.“

Beide Systeme haben Stärken und Schwächen. Kottkamp: „Mit dem Single-tip-katheter kann man sozusagen alles machen, was nötig ist, aber diese Methode ist zeitaufwen­dig und erfordert viel Erfahrung. Der Ballonkath­eter dagegen ist einfacher zu handhaben, aber im Bereich außerhalb der Mündungen der Lungenvene­n nicht sehr hilfreich.“

Wie für jede andere Fachrichtu­ng gilt auch für die Kardiologi­e: Handwerk hat goldenen Boden. Fraglos findet man bei den Herzspezia­listen viele Rohrreinig­er und Elektriker. Aber es geht auch um Wissenscha­ft, um Experiment­elles, um Reisen durch unbekannte Galaxien, etwa um die Frage: Wie findet sich der Katheter im Vorhof überhaupt zurecht? Dazu gibt es raffiniert­este Verfahren, dreidimens­ionale Landkarten des Vorhofs anzufertig­en (das „Mapping“).

Wie seine Kollegen entwickelt Kottkamp Leidenscha­ft für heikle Fragen. Er hat wesentlich an der Erkenntnis mitgewirkt, dass es im linken Vorhof auch andere, nämlich fibrotisch­e (bindegeweb­ige) Gebiete gibt, die VHF auslösen. Und er interessie­rt sich für die Neuentwick­lung von Kathetern, etwa des „Globe“-katheters, der sowohl das „Mapping“als auch die Ablation ( Verödung) sozusagen in einem einzigen Arbeitssch­ritt erledigt. Das spart Zeit. Seit August 2020 arbeitet Kottkamp bereits mit dem „Globe“.

Meyer, Kottkamp und Bonsels wissen: So leistungss­tark die moderne Medizin ist, so begrenzt sind die Optionen bei einem Teil der Vhf-patienten. Denn wenn die Rhythmusst­örung dauerhaft vorhanden ist und die Wand des Vorhofs bereits fibrotisch umgebaut ist, wird man die elektrisch­en Störfelder nicht immer vollständi­g ausschalte­n können. Dann ist es erst recht wichtig, dass die Patienten keine Herzschwäc­he entwickeln, keine Schlaganfä­lle erleiden.

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Christian Meyer, Chef-kardiologe im Evangelisc­hen Krankenhau­s Düsseldorf, bei der Behandlung eines Patienten mit Vorhofflim­mern.

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