Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Endspurt zu den Olympischen Spielen
ANALYSE In knapp zwei Monaten sollen in Japan die Sommerspiele stattfinden. Das einstige Musterland in der Pandemie-eindämmung hinkt jedoch beim Impfen weit hinterher – das hat vor allem politische und soziale Gründe.
Do not travel“, heißt es seit Dienstag auf der Website der Us-amerikanischen Botschaft in Tokio. Der Rat an Us-bürger ist unmissverständlich und dringend: Reisen Sie nicht nach Japan. Zu gefährlich sei die Lage angesichts der seit Wochen steigenden Infektionszahlen. Japan erlebt gerade seine vierte Infektionswelle. Zwar sind die 730.000 Ansteckungsfälle bei einer Bevölkerung von 126,5 Millionen noch relativ wenige. Aber bei Japans alternder Gesellschaft ist das Gesundheitssystem in Teilen schon kollabiert. So kann bei einer Erkrankung derzeit keine Behandlung garantiert werden.
Die Reisewarnung aus den USA hat vor allem symbolische Wirkung: Seit Monaten hat das ostasiatische Land bis auf wenige Ausnahmen ohnehin seine Grenzen geschlossen. In der japanischen Öffentlichkeit aber schlug der Beschluss des US-AUßenministeriums große Wellen. Der öffentliche Rundfunksender NHK gab über seine App Eilmeldungen heraus, die Nachrichtenagentur Kyodo berichtet ausführlich darüber. Ausgerechnet die USA, die lange Zeit als weltweites Sorgenkind in der Pandemiebekämpfung gegolten haben, warnen nun vor Austausch mit Japan.
Das schmerzt. Japan hat eher überwiegend als Vorbild gegolten, was die Eindämmung des Virus angeht. In Bezug auf die Vorbeugung von allzu vielen Infektionen durch ein vorsichtiges Alltagsleben trifft dies auch weiterhin zu. Nicht aber, wenn es das Thema Impfen betrifft. Nur gut 2,3 Prozent der Bevölkerung sind bis jetzt vollständig geschützt. Kein Industriestaat ist hierbei so langsam wie Japan. Auch deshalb bleiben die Infektionsgefahren im Alltag derzeit noch relativ hoch. So sah sich die Regierung Mitte des Monats gezwungen, einen Ausnahmezustand für die größten Metropolen vorerst bis Monatsende zu verlängern. Und womöglich wird er noch einmal ausgedehnt.
Dass Japan beim Impfen derart hinterherhinkt, hat vor allem soziale und politische Gründe. Als in den 1990er-jahren nach der Kombi-impfung MMR gegen Mumps, Masern und Röteln Autismuserkrankungen festgestellt worden waren, wuchs die Impfskepsis im Land stark an. Ein entsprechender Zusammenhang konnte zwar nicht nachgewiesen werden, aber ein Verbot des Impfstoffs beschloss die Regierung trotzdem. Und eine grundlegende Skepsis gegenüber dem Impfen besteht bis heute.
Eine internationale Umfrage des Instituts Ipsos ergab im Februar, dass in Japan nur 19 Prozent der Menschen der Aussage „deutlich zustimmen“, sich mit einem im Land zugelassenen Impfstoff schützen lassen zu wollen. Nur in Russland lag dieser Anteil noch niedriger.
Um gegenüber der Bevölkerung nicht voreilig zu wirken, hat Japans Regierung Impfstoffe ausdrücklich langsam geprüft. Als Biontech/pfizer für seine Vakzine eine Wirksamkeit von 95 Prozent festgestellt hatte, führten japanische Behörden zunächst ihre eigenen Tests am Impfstoff durch. Diese waren weniger umfangreich und kosteten zusätzliche Zeit, sollten aber für zusätzliches öffentliches Vertrauen sorgen. Erst Ende Februar, und damit Monate später als in den Staaten der EU, begannen in Japan die Impfungen.
Auch durch diesen Impfrückstand bleibt ungewiss, ob die für Ende Juli geplanten Olympischen Spiele in Tokio wirklich stattfinden können, ohne dass sie zu einem Superspreader-event werden. Zwar sollen alle Sportler vorher geimpft werden und sich zudem in einer von der Öffentlichkeit abgegrenzten Blase bewegen. Für die Zehntausenden
Freiwilligenarbeiter, die an U-bahnstationen, Spielstätten und Pressezentren für den geregelten Ablauf sorgen sollen, gilt dieses Versprechen aber nicht.
Auch deshalb sind laut verschiedenen Umfragen rund 80 Prozent im Land gegen die Austragung der Spiele diesen Sommer. Neben den hohen Kosten der Olympischen Spiele, die seit der einjährigen Verschiebung im März vergangenen Jahres noch einmal um rund drei Milliarden Us-dollar gestiegen sein dürften, zählen Zweifel an der Sicherheit zu den größten Kritikpunkten. Zumal es in Japans schwülen und heißen Sommern durch vermehrte Hitzeschläge ohnehin regelmäßig zu einer höheren Auslastung der Krankenhäuser kommt. Wenn zu Olympia nun Abertausende Menschen aus aller Welt kommen, befürchten Gesundheitsexperten auch für Tokio einen Kollaps.
Nicht zuletzt um die größte Sportveranstaltung der Welt noch zu retten, wollen Japans Behörden das Impfen nun beschleunigen. Am Montag begannen in mehreren Regionen des Landes die ersten Massenimpfungen für Senioren. In der vorigen Woche wurden mit den Stoffen von Astrazeneca und Moderna weitere Vakzine zugelassen. Das von Johnson& Johnson befindet sich nun im Prüfverfahren. Die Regierung hat unterdessen das Ziel ausgegeben, schon in Kürze eine Million Impfungen am Tag zu verabreichen. So sollen alle Senioren und Seniorinnen bis Ende Juli ein Impfangebot erhalten haben.
Eine Umfrage hat dieser Tage ergeben, dass 85 Prozent der verantwortlichen lokalen Behörden im Land davon ausgehen, diese Marke zu erreichen. Andere allerdings gaben zu Bedenken, dass es dafür derzeit an vielem mangele. So fehle schon das nötige Pflege- und Ärztepersonal, das diese Impfungen in entsprechendem Umfang durchführen könne. Und dies ist nicht die einzige Herausforderung. Gerade in Japan ist auch unsicher, wie viele Menschen ein Impfangebot überhaupt annehmen werden.
2,3 Prozent der Bevölkerung sind bis jetzt vollständig geimpft. Kein Industriestaat ist so langsam wie Japan