Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Missbrauch und Gewalt an Kindern nimmt deutlich zu
Die Corona-pandemie könnte zu diesem Anstieg beitragen haben. Im Kampf gegen Kindesmissbrauch gilt Nordrhein-westfalen als bundesweites Vorbild.
BERLIN Lügde, Münster, Bergisch Gladbach – die Namen dieser Orte in NRW wecken Erinnerungen an abscheuliche Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs, die seit 2019 aufgedeckt wurden. Diese Missbrauchskomplexe spielten am Mittwoch am Rande der Vorstellung der neuen Zahlen kindlicher Gewaltopfer eine Rolle. Johannes-wilhelm Rörig, der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, will darin kein Nrw-spezifisches Problem sehen. Er sieht das Bundesland als Vorreiter in der Aufarbeitung und Bekämpfung. „Ich finde, dass der Maßnahmen- und Handlungsplan, das Konzept in NRW eine Basis für alle anderen Länder ist, um da gleichzuziehen“, sagte Rörig bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA) in Berlin.
Wie dringend notwendig das wäre, zeigen die Zahlen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik von 2020. In allen Bereichen der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sind sie gestiegen, zum Teil erheblich. So wurden bei Kindesmissbrauch 6,8 Prozent mehr Fälle als im Vorjahr registriert und damit mehr als 14.500. Die Misshandlungen Schutzbefohlener haben um 10 Prozent zugenommen (insgesamt 4918 Fälle). 152 Kinder kamen gewaltsam zu Tode, 115 von ihnen waren zum Zeitpunkt ihres Todes jünger als sechs Jahre.
Besonders stark nahm der Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie zu – um ganze 53 Prozent auf 18.761 Fälle. Auch die Zahl der Fälle, in denen Minderjährige selbst Missbrauchsabbildungen verbreiteten, erwarben, besaßen oder herstellten, entwickelte sich konstant nach oben: Sie hat sich laut Statistik seit 2018 mehr als verfünffacht, auf 7643 angezeigte Fälle im vergangenen Jahr.
Zugleich betonte der Bka-präsident, dass es sich bei den Zahlen nur um das Hellfeld handelt, also die tatsächlich erfassten Fälle. Laut Rörig müsse man die statistisch erfassten Zahlen um ein Siebenfaches erhöhen, um eine realistische Vorstellung der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu bekommen.
Münch schloss dabei nicht aus, dass coronabedingte Stressfaktoren und Isolation zu einer Zunahme der sexualisierten Gewalt gegen Kinder und Jugendliche führten. Für Familien stelle diese Zeit eine Ausnahmesituation dar. „Räumliche Beengtheit, Existenzängste, familiäre Spannungen können dazu beitragen, dass sich Gewalt stärker entlädt“, sagte Münch. Kinder könnten durch die Beschränkungen auch weniger auf Gewalterfahrungen aufmerksam machen und mögliche Unterstützer von außen, etwa Erzieher oder Lehrer, hätten weniger Zugang zu den Kindern und Jugendlichen. Das Fazit des Bka-chefs: „Die überwiegende Anzahl von Straftaten gegen Kinder, Misshandlungen, sexueller Missbrauch geschehen in der privaten Umgebung, und diese Straftaten bedeuten häufig lebenslange psychische und auch physische Folgen bei den Opfern.“
Auch der Missbrauchsbeauftragte zog einen klaren Schluss aus den bedrückenden Zahlen: „Wir müssen den Kampf konsequenter führen.“Nach Rörigs Darstellung muss dieser Kampf umfassend sein: Er forderte unter anderem einen genaueren Überblick über die Zahlen, mehr Investitionen in Prävention und Intervention, mehr medienpädagogische Bildung an den Schulen und die Verankerung des Kampfes gegen Kindesmissbrauch in den Wahlprogrammen der Parteien. Für die Zeit nach der Bundestagswahl forderte Rörig eine Enquetekommission des Bundestags, in der Datenschützer, Kinderschützer, Ermittler und Vertreter von Internet-unternehmen sowie der Gaming-industrie gemeinsam eine Strategie zur Bekämpfung sexueller Gewalt im Netz erarbeiten. „Der Kampf gegen sexualisierte Gewalt muss in Deutschland insgesamt zur Chefsache werden.“Und noch einmal kam Rörig auf NRW zu sprechen. Das Land habe gezeigt: Wenn dieser Kampf zur Chefsache gemacht werde, kämen dabei „sehr gute Entscheidungen“heraus, die in der Prävention, bei Hilfen und Unterstützung zu Verbesserungen führen könnten.
„Das Konzept in Nordrhein-westfalen ist eine Basis für alle anderen Länder“Johannes-wilhelm Rörig Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs