Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Wir müssen den Sommer nutzen“
Kanzlerin Merkel macht in ihrem achten „Bürgerdialog“Mut in der Pandemie und ist von der Arbeit Ehrenamtlicher berührt.
BERLIN Es sind Millionen, die sich engagieren: Unentgeltlich, oft in der Freizeit, von der Öffentlichkeit meist unbemerkt: Ehrenamtliche, die Schwächere unterstützen, in der Pandemie allemal. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) trifft sich am Mittwoch virtuell mit Helfern zum „Bürgerdialog“, um über deren Lage während der Corona-pandemie zu reden. Die Kanzlerin bekommt die Eindrücke von Tafel-betreibern, Ärzten oder Freiwilligen in der Kinder- und Flüchtlingsarbeit geschildert. Und bekommt vor allem diesen Eindruck: Erschöpfung durch die Pandemie, aber auch den unbedingten Willen, durchzuhalten – der Menschen wegen.
Das Gespräch ist bereits das achte in diesem Corona-kanzlerinnen-format. Themen waren bislang etwa die Polizei, Ausbildung, Kita und Schule, Hilfstelefone, Studium, die Pflege, die Künstler. Merkel freut sich am Mittwoch sichtlich über die Gesprächspartner – sie ist beeindruckt von der Selbstlosigkeit und dem Engagement der Teilnehmer.
Sebastian etwa hilft freiwillig in der Arche Düsseldorf, spielt und lernt mit den Kindern dort, die oft aus einem schwierigen sozialen Umfeld kommen. Die Krise habe die Kinder „sehr einsam“gemacht, erzählt er. Sie seien
„traurig und verunsichert“. Die Ernährung, aber auch die Bildung und das Sportleben hätten in der Pandemie sehr gelitten. Diese Defizite wieder auszugleichen werde viel Zeit brauchen, befürchtet er.
Wolfgang Blaseck, Vorsitzender der Tafel im südhessischen Dieburg, erzählt, dass viele seiner Kunden noch nicht den Weg zu dem Hilfsangebot zurückgefunden hätten – trotz vieler Hygienevorschriften. Man mache sich Gedanken. wo die Menschen abgeblieben seien. Oft mache er sich richtige Sorgen: „Manche verschwinden einfach.“Er wirbt für eine Erhöhung der Hartz-iv-sätze. Armut in der Pandemie sei viel härter als sonst schon, sagt er. Die Gesellschaft sei auf den Zusammenhalt angewiesen, niemand dürfe abgehängt werden.
Viele der Helfer danken zu Beginn ihrer kurzen Statements der Kanzlerin. Merkel ist das sichtlich unangenehm. Sie weiß, dass dieser Dank von der Zeit des jeweiligen Redebeitrags abgeht. Sie hört sich die Probleme der Menschen mit körperlichen Einschränkungen an, die – in Pflegeeinrichtungen oder Wohnheimen – wochenlang ihre Angehörigen nicht sehen konnten. Oder auch in Werkstätten arbeiten und bislang nicht zum Arbeiten zurückgekommen sind – aus Angst vor einer Infektion.
Merkel nutz dies für einen Appell: Es komme eine Phase der Öffnung, das sei sehr schön. „Aber wir müssen auch auf die achten, die nicht stark und tough sind“, sagt die Kanzlerin. „Diese könnten sich an die Seite gedrängt fühlen.“Merkel ruft zudem dazu auf, bei den Impfungen nicht jene Menschen mit Behinderung zu vergessen, die zu Hause leben. Es gebe viele Ältere und Behinderte, die nicht erfasst würden und auch nicht die Kraft hätten, sich bei einer Hotline zu melden. Doch sie macht auch Mut: „Wir müssen den Sommer nutzen, auch um psychologisch wieder auf die Beine zu kommen“, sagt Merkel – und man merkt ihr ein bisschen an, dass sie sich ebenfalls danach sehnt.
Und noch etwas ist der Bundeskanzlerin klar: „Wer acht Jahre alt ist und anderthalb Jahre eine Pandemie erlebt, dann ist das etwas anderes als bei mir mit 66 Jahren - das ist ein ganzer Lebensabschnitt.“