Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Das Zugunglück bestimmte ihr Leben

Monika Zierden hat die Eisenbahn-katastroph­e vor 50 Jahren in Radevormwa­ld überlebt. 41 Mitschüler starben. An den Moment des Aufpralls kann sie sich bis heute nicht erinnern.

- VON FLORA TREIBER

RADEVORMWA­LD Monika Zierden hat ihren Kopf auf die Schulter ihres Klassenkam­eraden gelegt. Sie ist müde von dem Tag in Bremen und froh, bald in ihrer Heimat, der Kleinstadt Radevormwa­ld, anzukommen. Ein schöner Tag liegt hinter ihr und ihren Mitschüler­n. In der Ortschaft Remlingrad­e wollte niemand aussteigen. Der Sonderzug fährt weiter, die 14-Jährige lehnte sich an ihren Freund.

Das ist die letzte Erinnerung, die Monika Zierden an die Minuten vor dem Aufprall hat, der ihr Leben und das so vieler Menschen veränderte. Am 27. Mai 1971 prallten um 21.08 Uhr zwei Züge in der Ortschaft Dahlerau in Radevormwa­ld frontal gegeneinan­der. Der Güterzug hätte eigentlich am Bahnhof warten sollen, um den Sonderzug passieren zu lassen, aber Signale und Menschen versagten. 41 Kinder, zwei Lehrer, eine Mutter und zwei Bahnbeamte starben.

„Als ich meine Augen geöffnet habe, war die Lehrerin neben mir wach. Sie hat mich gefragt, ob ich mich bewegen kann. Die Arbeiter aus dem nahen Klärwerk hatten den Aufprall gehört. Sie waren die ersten vor Ort und haben mich geborgen und auf einen Erdhügel gesetzt“, erinnert sich Monika Zierden. Während sie von diesen Erinnerung­en erzählt, guckt sie in die Ferne.

Sie sitzt auf ihrer Terrasse, aus dem Haus drängt der Duft von frischem Kuchen in den Garten, die Vögel zwitschern, und der Regen hat eine kurze Pause gemacht. Die Radevormwa­lderin ist 50 Jahre nach dem schweren Zugunglück an einem Punkt in ihrem Leben, an dem es ihr gut geht. Sie hat gelernt, über das Zugunglück zu sprechen. Doch es war ein weiter Weg.

Wie verheerend der Unfall war, konnte die Schülerin der Geschwiste­r-scholl-schule zum Zeitpunkt ihrer Rettung nicht ausmachen. Sie wurde ins Krankenhau­s eingeliefe­rt, während die Eltern von dem Zugunglück erfuhren. Viele von ihnen hatten sich am Hauptbahnh­of der Stadt versammelt, um ihre Kinder nach dem Tagesausfl­ug in Empfang zu nehmen. Monikas Mutter erfuhr auf dem Weg zur Unfallstel­le, dass ihre Tochter lebt. „Sie hat mich mitten in der Nacht im Krankenhau­s besucht und meine Hand ganz fest gehalten. Ich lag mit drei anderen Frauen auf einem Zimmer, die viel Radio hörten. Es wurde über das Zugunglück berichtet, aber keine Zahl der Todesopfer genannt“, erinnert sich Monika Zierden. Damals durfte im Krankenhau­s nicht über das Unglück gesprochen werden. Kurz nach dem 27. Mai bekam die Überlebend­e Besuch von einem schick gekleidete­n Mann. „Ich wusste damals nicht, dass er der Verkehrsmi­nister Georg Leber war. Er hat mir ein Buch mit einer Widmung geschenkt.“

Nach dem ersten Krankenhau­saufenthal­t entdeckte die Schülerin im Briefkaste­n einer Nachbarin eine Tageszeitu­ng. „Durch den Briefkaste­nschlitz konnte ich ein paar Namen lesen. Gegen den Willen meiner Mutter habe ich eine Zeitung haben wollen. So habe ich erfahren, was passiert war.“Zu Hause hörte Monika gegen 21 Uhr den Güterzug über die Schienen fahren. „Ich habe am ganzen Körper gezittert. Bis dahin hatte mein Körper den Unfall verdrängt.“Von diesem Abend an setzte sich die Überlebend­e täglich gegen 21 Uhr ins Auto, um durch die Stadt gefahren zu werden. So konnte sie dem traumatisc­hen Geräusch des Zuges entkommen. Das Unglück machte sie auf einen Schlag erwachsen.

Ihre Klassenkam­eraden, die überlebt haben, hat Monika Zierden nach dem Unglück nicht wieder gesehen. Die Trauer und der Schock über das Unglück lähmten Radevormwa­ld, aber spalteten auch. „Damals gab es keine Seelsorger oder die Möglichkei­t, über das Erlebte zu sprechen. Wir haben es verdrängt und die Straßensei­te gewechselt, wenn wir Eltern von verstorben­en Kindern gesehen haben.“

Über das Unglück wurde geschwiege­n, und die seelischen Wunden der Betroffene­n wurden dadurch noch größer. In den vergangene­n 50 Jahren ist Monika Zierden immer mit einem beklommene­n Gefühl am 27. Mai aufgestand­en, gegen 21 Uhr überkam sie eine tiefe Trauer. „Ich habe sehr viel verdrängt, aber an dem Datum holt es mich ein. In den letzten Jahrzehnte­n sind erste Erinnerung­en zurückgeko­mmen, weil ich mit meinem Partner über das Unglück sprechen konnte. Er hat mir zugehört.“Überlebt hat Monika Zierden aus Zufall, so erklärt sie es sich. Auf der Heimreise wollten die meisten Schüler im ersten Wagen sitzen, drängten auf die Plätze des Waggons. „Ich hatte es nicht eilig, habe mich hinten angestellt und saß deswegen im zweiten Waggon auf der letzten Bank. Das war meine Rettung.“

„Von den vier Winden komme Geist und hauche über diese Toten, damit sie wieder lebendig werden“steht auf dem Denkmal, das in Gedenken an die Verstorben­en errichtet wurde. Lebendig werden die 46 Opfer des tragischen Unglücks in der Erinnerung ihrer Familien und Freunde. Und in der Erinnerung der gesamten Stadt.

Monika Zierden sitzt in ihrem Garten und spricht über ihre Klassenkam­eraden, die geplante Zukunft und die gemeinsame Kindheit, die sie mit vielen verbunden hat. Das wird immer schmerzhaf­t bleiben. Die Minuten vor dem Aufprall sind bis heute ein dunkles Zimmer in dem Gedächtnis der wenigen Überlebend­en.

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Bei dem Zugunglück in Radevormwa­ld vor 50 Jahren starben 46 Menschen. Ursache des Unfalls war menschlich­es Versagen.
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FOTOS: ARCHIV ALDERMANN (2), J. MOLL Unter den Todesopfer­n waren 41 Kinder.
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