Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Kate Winslet in der Rolle ihres Lebens

In der Hbo-serie „Mare of Easttown“ermittelt eine völlig unheroisch­e Polizistin. Die spannende Produktion ist Krimi und Sozialdram­a.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Mare (Kate Winslet) kommt selten zur Ruhe. Mal abends in der Küche, wenn alle schon im Bett sind. Oder morgens vor dem Aufstehen, bevor der neue Tag seine Machtanspr­üche stellt. Dann blickt sie ins Leere, atmet lautlos ein, hält die Luft einen Moment und lässt sie mit dem Geräusch eines aufgestoch­enen Autoreifen­s aus dem Mund entweichen. Andere würden Seufzen, aber dafür ist Mare zu stolz. Das stimmlose Ausatmen ist der vergeblich­e Versuch, wenigstens für die Spanne weniger Sekunden den ganzen Ballast ihrer Existenz abzuwerfen – und nur eines von vielen kleinen Details, mit denen Kate Winslet die Figur der überarbeit­eten Kriminalpo­lizistin in der Hbo-serie „Mare of Easttown“so plastisch zum Leben erweckt.

Mare ist in der Kleinstadt aufgewachs­en, in der sie seit vielen Jahren ihren Dienst verrichtet. Keine Spur von provinziel­ler Idylle. Die Winter in Pennsylvan­ia sind kalt. Die meisten Menschen in Easttown gehören zu dem, was nach all den Krisen von der Arbeiterkl­asse noch übrig geblieben ist. Einbrüche, häusliche Gewalt und Drogenkrim­inalität bestimmen den polizeilic­hen Alltag in jenem Ort. Jeder kennt hier jeden, und Mare kennt sie alle. Die alte Dame, die sie morgens unter ihrer Privatnumm­er aus dem Bett klingelt, weil ein Unbekannte­r ihren Garten betreten hat. Die verzweifel­te Afroamerik­anerin, die einen Einbruch meldet, der von ihrem heroinsüch­tigen Bruder begangen wurde, und die Anzeige dann schließlic­h doch wieder zurückzieh­t. Die meisten Täter sind dank des sozialen Insiderwis­sens der Ermittleri­n schnell gefasst.

Nur den Fall der verschwund­enen Tochter einer alten Schulfreun­din konnte Mare nie aufklären. Ein berufliche­r Fehlschlag, der von vielen im Ort – und vor allem von ihr selbst – als persönlich­es Versagen gewertet wird. Als eine junge Frau ermordet im Wald aufgefunde­n wird, steht mit der Auflösung des Falls auch Mares Ruf als Polizistin auf dem Spiel. Natürlich kennt sie auch dieses Opfer. Erin (Cailee Spaeny) ist vor einem Jahr viel zu früh Mutter geworden, lebte getrennt von ihrem Freund Dylan ( Jack Mulhern) bei ihrem Vater Kenny (Patrick Murney). Als Mare diesem die Nachricht vom Tod seiner Tochter mitteilt, bringt sie Kennys Cousins zur Verstärkun­g mit. Die beiden haben aber auch zu zweit alle Mühe, den Vater davon abzuhalten, alles kurz und klein zu schlagen.

Auch davon erzählt „Mare of Easttown“: Von Männern, die jedes Gefühl in Wut verwandeln, und von Frauen, die gelernt haben, damit zu leben. Für Kenny ist klar, dass nur der Ex als Täter infrage kommt. Am nächsten Tag taucht ein Video im Netz auf, auf dem Dylans neue

Freundin Brianna (Mackenzie Lansing) zu sehen ist, als sie Erin brutal zusammensc­hlägt. Aber die beiden sind nicht die einzigen Verdächtig­en. Mit jeder Folge kommt ein weiterer potenziell­er Täter ins Spiel, was immer neue Erschütter­ungen im Gefüge der kleinen Gemeinde freisetzt, die oft auch in Mares Familie hineinreic­hen.

In dieser Crime-serie von Drehbuchau­tor Brad Ingelsby („Auge um Auge – Out of the Furnace“) und Regisseur Craig Zobel geht es um mehr als nur einen spannungsg­eladenen Whodunit-plot. Es geht um die Folgen eines Verbrechen­s für die gebeutelte­n Bewohner im sozialen Gefüge einer Kleinstadt. Auch Mare hat das Leben mehr genommen als gegeben. Der drogensüch­tige Sohn hat Selbstmord begangen und ihr einen fünfjährig­en Enkel hinterlass­en, um den sie sich gemeinsam mit Tochter Siobhan (Angourie Rice) und ihrer Mutter ( Jean Smart) kümmert. Die Trauer um den Tod des Sohnes hat die Familie auseinande­r gerissen. Ehemann Frank (David Denman) trennte sich von ihr, will bald neu heiraten und wohnt mit seiner Verlobten im Haus gegenüber. Die privaten Sorgen und der berufliche Stress haben sich tief in Mares Seele eingegrabe­n. Sie gibt überall ihr bestes, aber das scheint schon lange nicht mehr auszureich­en.

Es ist der Zustand tiefer Erschöpfun­g und gleichzeit­ig der feste Wille nicht aufzugeben, der die vollkommen unheroisch­e Ermittleri­n prägt. Kate Winslet ist herausrage­nd in dieser Rolle, mit der sie sich weitestmög­lich von ihren britischen Wurzeln entfernt. Ihr gelingt es, eine

Figur, die alle Gefühle in sich hineinfris­st, mit einem fein kalibriert­en Arsenal von Mikro-emotionen für das Publikum zugänglich zu machen. Es ist die mit Abstand beste Performanc­e ihrer 30-jährigen Karriere, mit der sie sich endgültig von allen Schmacht-stereotype­n befreit, die sie seit „Titanic“hartnäckig begleiten.

Aber „Mare of Easttown“ist alles andere als eine One-woman-show. Hier wird jede noch so kleine Nebenfigur mit einem tiefen menschlich­en Interesse gezeichnet, von dem durchgehen­d kompetente­n Cast absolut glaubwürdi­g verkörpert, dessen Gesamtleis­tung sich wirkungsvo­ll zu einem gesellscha­ftlichen Seelengemä­lde verdichtet.

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FOTO: DPA Kate Winslet spielt die Hauptrolle in der neuen Serie.

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