Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Das „Großstadtrevier“geht weiter
Die beliebte Ard-serie hat eine Fortsetzung in Spielfilmlänge bekommen.
Die Krimiserie „Großstadtrevier“ist ein Dinosaurier des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, aber noch lange nicht vom Aussterben bedroht. Zum 35-jährigen Dienstjubiläum und dem Ende der neuen Staffel spendiert die ARD mit „St. Pauli, 06:07 Uhr“eine Folge in 90-minütigem Format und lässt die Vorabendserie auf den Prime-time-sendeplatz vorrücken. Im Mittelpunkt steht Polizeiobermeisterin Nina Sieveking ( Wanda Perdelwitz), die vor neun Jahren beim PK14 anheuerte und seitdem als patente Ordnungshüterin mit Herz am rechten Fleck Sympathiepunkte ansammeln konnte.
„Es gibt so Momente, da fühle ich mich ganz da, so wohl, so richtig“, sagt sie beim Blick über die nächtliche Hafenlandschaft an der Elbe zu ihrem Streifenpartner Lukas Peters (Patrick Abozen). Aber ihre persönliche Lebenslust und das berufliche Selbstbewusstsein geraten ins Wanken, als sie selbst Opfer eines Gewaltverbrechens wird: Auf dem Weg nach Hause geraten in der S-bahn zwei Männer in Streit mit einem Fahrgast. Als Sieveking versucht, schlichtend einzugreifen, wird sie zum Ziel der Angreifer, die sie brutal zusammenschlagen, ihr Handy und Dienstwaffe abnehmen und mit einem Teppichmesser die Haare abschneiden. Dass ihr, die jeden Tag für andere den Kopf hinhält, niemand zur Hilfe gekommen ist, stürzt die junge Polizistin in eine tiefe Krise. Das quietschende Geräusch der Hochbahn reicht aus, um die Erlebnisse in ihr wieder wachzurufen.
Dennoch meldet sich Sieveking bald wieder zum Dienst, darf sich aber nicht in die Ermittlungen um ihren Fall einmischen, an dem fast die ganze Belegschaft beteiligt ist. Die Auswertung der Überwachungsvideos bringen nur unscharfe Bilder hervor, und die Zeugen in der S-bahn liefern keine brauchbare Täterbeschreibung. Aber Sieveking ist sich sicher, dass auf dem Bahnsteig im toten Winkel der Kamera noch ein anderer Mann stand, der lachend zugeschaut hat.
Über die Jahre hinweg hat „Großstadtrevier“immer wieder mit unterschiedlichen Stimmungsformaten gearbeitet. Von der Komödie über die Sozialstudie bis zum kniffligen Kriminalfilm reichte das Spektrum. Mit „St. Pauli, 06:07 Uhr“entwirft Regisseur Félix Koch nun ein stimmiges Tv-drama, das sich auf die traumatischen Folgen der Gewalterfahrung für die Polizistin konzentriert und sich aller angestrengten Vorabendserien-heiterkeit entledigt. Absolut schlüssig spielt Wanda Perdelwitz die tiefe Verunsicherung, die unkontrollierten Angst- und Wutausbrüche und die berufliche Infragestellung der kriselnden Ordnungshüterin. Die tägliche Gefährdung, die mit dem Polizeidienst einhergeht, wird im Krimi-genre zumeist nur als zusätzlicher Spannungsfaktor genutzt. „St. Pauli, 06:07 Uhr“hingegen erkundet das Thema nicht nur auf der persönlichen Ebene der Betroffenen, sondern auch als Schuldproblem einer Gesellschaft, der es selbst an Zivilcourage fehlt.
Info „Großstadtrevier – St. Pauli, 06:07 Uhr“ist in der Ard-mediathek zu sehen.