Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Alarm in Südostasien
ANALYSE Staaten wie Vietnam oder Thailand galten lange als Erfolgsbeispiele im Kampf gegen Covid-19. Doch seit einigen Wochen steigen die Fallzahlen rapide, eine neue Mutante tauchte auf. Eine massive Ausbreitung wäre fatal.
Was das Gesundheitsministerium in Hanoi am Wochenende vermeldete, bietet mal wieder Anlass zu Sorge: Die nun als Vietnam-mutante bezeichnete Variante des Coronavirus zeigt Eigenschaften jener Mutationen, die in Großbritannien und Indien entdeckt wurden. Sie ist also aggressiv und verbreitet sich schnell über die Luft. Wie viele Menschen schon damit infiziert sind, wird gerade ermittelt. Am Montag startete ein Testprogramm für die gesamte Bevölkerung der größten Metropole des Landes: Ho Chi Minh City hat rund neun Millionen Einwohner.
Wird nun auch Vietnam von der Pandemie heimgesucht? In Ho Chi Minh City, dem ehemaligen Saigon, werden die Menschen jedenfalls angehalten, nur noch für notwendige Besorgungen das Haus zu verlassen. Diverse Lokale, Friseursalons, Gebetsstätten und dergleichen mussten schließen. Auch die Abstandsregeln wurden wieder verschärft. Zwar kam das autoritär regierte 96-Millionen-land in Südostasien bisher gut durch die Pandemie – kaum 50 Todesfälle wurden registriert; die Infektionszahl liegt mit insgesamt bisher rund 7000 sehr gering. Allerdings wurde mehr als die Hälfte davon im Mai bekannt.
Es ist eine Beschreibung, die sich grob auf die gesamte Region übertragen lässt. Nicht nur Vietnam galt in der Pandemie lange Zeit als Positivbeispiel in Bezug auf Vorsorge. Ganz Südostasien fiel dadurch auf, dass trotz einer vielerorts hohen Bevölkerungsdichte und begrenzter gesundheitspolitischer Mittel die Ansteckungszahlen eher gering blieben. Als verantwortlich dafür galten schnelle Grenzschließungen, harte Quarantäne- und Isolationsregeln, diszipliniertes Maskentragen und womöglich auch das heiße, schwüle Klima.
Doch auch so lassen sich die Varianten von Sars-cov-2, derer allein in Vietnam mittlerweile sieben registriert worden sind, nicht ewig aufhalten. Die Inzidenzen auf den Philippinen, in Thailand und Kambodscha liegen derzeit etwa so hoch wie in den USA, in Deutschland und Großbritannien. In Vietnam liegen sie noch deutlich darunter, in Malaysia dafür um ein Vielfaches höher. In den Ländern Südostasiens leben rund 675 Millionen Menschen, mehr also als in der EU. Sollte sich hier, wo viele Staatsgrenzen über Land verlaufen, die Pandemie weiter ausbreiten, hätte die Welt ein weiteres großes Problem.
Die vergangenen Monate haben gezeigt, wie schnell es gehen kann. So machte in Kambodscha der Fall von vier Touristen aus China Schlagzeilen, die im Februar aus Dubai eingereist waren und sich nicht an die Quarantänevorschriften halten wollten. Sie bestachen offenbar einen Offiziellen, besuchten Nachtklubs und steckten im Alltagsleben mehrere Menschen an. Zwei der vier Besucher seien positiv getestet geworden, hieß es. Bald sprangen die täglichen Neuinfektionszahlen von rund zehn auf knapp 500. Die Regierung reagierte mit einem strengen Lockdown und der Drohung, Zuwiderhandlungen würden mit langer Haft geahndet.
Doch wie erfolgreich solche Maßnahmen langfristig noch sein können, ist ungewiss. Bis auf den wohlhabenden Stadtstaat Singapur sind die Länder Südostasiens von Arbeitsmärkten mit Tagelohnjobs geprägt und bisweilen eher hohen Zahlen von Personen pro Haushalt. So ist erstens die soziale Isolierung daheim nicht immer praktikabel, weil nicht jede Person ein Zimmer für sich hat. Zweitens ist das Daheimbleiben oft aus finanziellen Gründen nur für eine kurze Dauer auszuhalten.
An einigen Orten ist sie fast gar nicht auszuhalten. Dies trifft besonders auf die ärmsten Staaten der Region zu, die die UN als „least developed countries“zählen, also die ökonomisch am wenigsten entwickelten: Laos, Kambodscha, Osttimor und Myanmar. Besonders groß ist die Unsicherheit in Myanmar, wo seit einem Militärputsch Anfang Februar täglich auf den Straßen protestiert und unter anderem auf Krankenhäuser geschossen wird.
Offizielle des Gesundheitssystems befinden sich dort zu großen Teilen im Streik gegen das Militärregime. Mit dem Putsch haben die Behörden praktisch aufgehört, Infektionszahlen zu dokumentieren. Statistisch hat sich das Virus seit Februar also nicht mehr nennenswert ausgebreitet. De facto dürfte das Gegenteil zutreffen. Myanmar hat Landgrenzen mit Bangladesch, Indien, China, Laos und auch Thailand, wo die Fallzahlen zuletzt stark stiegen.
Unter Kontrolle bringen lässt sich das Virus von nun an nur noch durch schnelles Impfen. Allerdings sind die meisten Länder hier auf Lieferungen durch den internationalen Mechanismus Covax oder aus China angewiesen. Hinter Singapur, wo schon mehr als ein Drittel mindestens eine Impfung erhalten haben, stehen nach der Zahl der Impfungen pro 100 Einwohner Indonesien, Thailand, Kambodscha und die Philippinen noch relativ gut da, liegen aber deutlich unter den Raten etwa in Europa und den USA.
„Impfungen in Südostasien: Es ist kompliziert“, titelte die thailändische Zeitung „Bangkok Post“vor einigen Wochen entsprechend. Gerade hatte das Institut Ipsos herausgefunden, dass nur fünf Prozent der Menschen in der Region das Gefühl haben, sie hätten die Pandemie hinter sich. Wie kompliziert es ist, zeigt sich an Vietnam: Der kommunistisch regierte Staat hat angesichts eines Krieges mit China vor gut 30 Jahren ein schlechtes Verhältnis zum Nachbarn im Norden. Wohl auch deshalb hat Vietnam bisher keine Impfstofflieferungen aus Peking angenommen. Nur etwa jeder Hundertste in Vietnam hat bis jetzt eine Impfung erhalten.
Zuhausebleiben ist in vielen armen Ländern schlicht keine Alternative