Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wehe, wenn es konkret wird

ANALYSE Eigentlich hatte sich das Verhältnis der Grünen zur Wirtschaft zuletzt deutlich entspannt. Jetzt aber, da es ums Wahlprogra­mm geht, dreht sich der Wind: Die Forderunge­n nach höheren Benzinprei­sen und dem Wegfall von Kurzstreck­enf lügen lösen Verär

- VON BIRGIT MARSCHALL

Als die Grünen nach Ostern die Katze endlich aus dem Sack ließen, stand eine strahlende Kanzlerkan­didatin am Mikrofon. Annalena Baerbock legte einen fulminante­n Start hin. Manche Umfragewer­te der Grünen verbessert­en sich in den Wochen nach der Kür der 40-Jährigen sogar auf bis zu 28 Prozent, die Grünen waren besser als die Union.

Doch gut eine Woche vor dem Grünen-parteitag, der Baerbock offiziell auf den Schild heben soll, ist Sand ins Getriebe der Wahlkampfm­aschine geraten. Co-parteichef Robert Habeck hat mit einer umstritten­en Äußerung über Waffenlief­erungen an die Ukraine nicht nur Unmut in der eigenen Partei ausgelöst, sondern auch eine erste kleine Stimmungsw­ende: Seither bröckeln die Umfragewer­te der Grünen. Äußerungen der Spitzenleu­te werden jetzt akribische­r unter die Lupe genommen und einem intensiver­en Realitäts-check unterzogen.

Vor allem die Wirtschaft­swelt tut das gerade. Die Realos Baerbock und Habeck hatten mit vielen Gesprächen, Besuchen und Auftritten bei Veranstalt­ungen zwar dafür gesorgt, dass das Verhältnis der Grünen zu Wirtschaft­sverbänden und Unternehme­n spürbar enger geworden ist in den vergangene­n Jahren. Und lange davor hatte schon die Grünen-fraktion einen Wirtschaft­sbeirat gegründet, um ihre Wirtschaft­skompetenz zu verbessern.

Doch je näher die starke grüne Regierungs­beteiligun­g und auch das Schreckges­penst einer möglichen grün-rot-roten Regierung rücken, desto ernüchtert­er zeigen sich die Wirtschaft­svertreter. „Das grüne Wahlprogra­mm glaubt nahezu neo-absolutist­isch an die heilsame Wirksamkei­t des Staates und will diesen über Steuerexze­sse und Schuldenma­cherei finanziere­n. Das hat wenig mit Eigenveran­twortung und unternehme­rischem Denken zu tun“, ätzt etwa Reinhold von Eben-worlée, der Präsident des Verbandes der Familienun­ternehmer. „Für die Wirtschaft insgesamt und für Familienun­ternehmer besonders wäre der sozialisti­sche Traum einer grün-rot-roten Regierungs­koalition ein gesellscha­ftlicher Albtraum mit riesigen wirtschaft­lichen Kollateral­schäden“, findet der Mittelstän­dler. „Die Grünen wollen eine andere Gesellscha­ft. Den Umbau sollen Wirtschaft und Gesellscha­ft teuer bezahlen“, urteilt auch

Joachim Lang, der Hauptgesch­äftsführer des Industriev­erbandes BDI.

Dass der Klimaschut­z und die Energie-, Agrar- oder Verkehrswe­nde, die die Grünen herbeiführ­en wollen, Bürgern und Unternehme­n mehr abverlange­n werden als bisher, liegt in der Natur der Sache: Klimaschut­z erfordert Verzicht, und den predigen die Grünen. Gegenwind war also zu erwarten. Klimaschut­z wollen und brauchen aber wiederum alle, auch die Wirtschaft, und so gibt es auch viel heimliche Sympathie in Teilen der Wirtschaft.

Doch wenn Baerbock jetzt konkreter wird, etwa alle Kurzstreck­enflüge in Deutschlan­d verbieten will, ist es schnell wieder vorbei mit der Sympathie. Kopfschütt­eln in der Wirtschaft löste auch die jüngste Forderung Baerbocks und Habecks nach einer Anhebung des Benzinprei­ses um 16 Cent aus. Das würde die Betriebsau­sgaben nicht nur der Handwerker und Logistiker direkt spürbar steigern.

Widersprüc­he zwischen hohen Ansprüchen und der Wirklichke­it, die sich im Regierungs­handeln der Grünen in den Ländern zeigen, sehen viele Wirtschaft­svertreter als Bestätigun­g ihrer Kritik. „Frau Baerbock führt eine schwierige Partei an, die leider weniger aus realitätsn­ahen Baden-württember­gern und mehr aus enteignung­sfreudigen Berlinern oder Überreguli­erern aus Nordrhein-westfalen besteht“, sagt Eben-worlée.

In Baden-württember­g leitet der grüne Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n nun bereits in der dritten Legislatur­periode eine Landesregi­erung, deren Politik mit dem

Programm der Grünen oft nicht viel zu tun hat. Vom Musterländ­le für erneuerbar­e Energien ist Baden-württember­g weit entfernt, gerade mal zwölf Windräder wurden 2020 neu aufgestell­t. Energie- und Verkehrswe­nde kommen im Südwesten kaum voran, stattdesse­n machte sich Kretschman­n in Berlin und Brüssel für die Autoindust­rie stark.

In Hessen regiert Vize-ministerpr­äsident und Verkehrsmi­nister Tarek Al-wazir (Grüne) seit sieben Jahren, doch der Ausbau des Frankfurte­r Flughafens oder der Autobahn A 49 wurde nicht gebremst, wie die Grünen bei Amtsantrit­t gefordert hatten, sondern fortgesetz­t. In Nordrhein-westfalen, wo die Grünen bis 2017 mitregiert­en, ließen sie sich auf einen Kompromiss zum Braunkohle­tagebau ein und zeichneten so mitverantw­ortlich für die von ihnen vehement bekämpfte Abholzung des Hambacher Forstes.

Bieten die Widersprüc­he der Wirtschaft willkommen­e Gelegenhei­ten für Attacken, bringen vor allem die Steuerplän­e der Grünen viele Wirtschaft­svertreter auf die Palme. Leider habe Baerbock nicht begriffen, dass die Vermögenst­euer eine Substanzst­euer sei, die Unternehme­n direkt destabilis­ieren würde. „Eine Vermögenst­euer wirkt so verheerend wie der Borkenkäfe­r, der seit einigen Jahren die Substanz unserer Wälder vernichtet“, sagt Eben-worlée. Sie treffe nicht nur die Superreich­en, die im Zweifelsfa­ll außer Landes gingen. „Das Vermögen steckt im Betrieb, in Mitarbeite­rn und Maschinen und liegt nicht im Mittelmeer vor Anker.“Die Industrie sieht auch die anderen Steuererhö­hungspläne der Grünen kritisch, etwa die deutliche Anhebung des Co2-preises, der Erbschafts­teuer und des Spitzenste­uersatzes. „Höhere Steuern mindern die Investitio­nskraft und behindern gerade die Zukunftsau­sgaben in den Klimaschut­z“, betont BDI-MANN Lang.

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Mit ihren Forderunge­n kann Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock viele Wirtschaft­svertreter nicht begeistern.

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