Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wahlkampf mit blauen Elefanten

Der Schock saß tief, als die AFD 2016 in Magdeburg ein Direktmand­at gewann. Nun ist die Partei wieder auf Wahlkampf-plakaten zu sehen und an jeder Straßeneck­e zu spüren. Doch es gibt Hoffnung für ihre Konkurrenz.

- VON GREGOR MAYNTZ

„Sachsen-anhalt ist immer eine Wundertüte, da lohnt es sich, bis zuletzt zu kämpfen“

Julia Brandt

Spd-direktkand­idatin

Morgens um sieben ist die Welt eigentlich in Ordnung. Nicht aber vor dem Bahnhof in Magdeburg-neustadt. Das einst wunderschö­ne neugotisch­e Gebäude ist völlig herunterge­kommen, viele Fenster sind eingeschla­gen, und die Zeit ist auf der Bahnhofsuh­r stehengebl­ieben. Auch für Jenny Schulz (46), die Landtagska­ndidatin der Linken, ist die Welt nicht in der gewohnten Ordnung. Der Magdeburge­r Norden war lange vom Direktkand­idaten der Linken im Landtag vertreten. Seit fünf Jahren von der AFD. Ausgerechn­et Magdeburg. Ausgerechn­et der Wahlbezirk, der so divers ist wie kaum eine Region. Mit Villen und Plattenbau­ten, Uni und Gewerbe. Wie konnte das nur passieren? Und wird es sich Sonntag wiederhole­n?

Die Linke-kandidatin hat landesweit schrumpfen­de Werte gegen sich – und schon eine halbe Stunde Pendler-wahlkampf hinter sich. Eine kleine rote Papiertüte mit Broschüre und Apfel hält sie den Magdeburge­rn entgegen. Sie haben es fast alle eilig, greifen bei der Aussicht auf den kleinen Snack dann doch zu. Drei Dutzend wird sie in der frühen Morgenstun­de los. Da, wo ihr Wahlbezirk mit zerfallene­r Architektu­r ahnen lässt, dass sich die meisten vor fünf Jahren nicht nur wegen der Flüchtling­skrise der AFD zuwandten. Sondern weil sie sich zu kurz gekommen fühlen.

Von der 2016er-migrations­krise ist im Magdeburge­r Norden ein Migrations­problem mit Rumänen übriggebli­eben. Und eine andere Krise ist hinzugekom­men: Die Pandemie, die in denselben Plattenbau­ten bei denselben Menschen mit geringem Einkommen und geringer Bildung dieselbe Existenzan­gst verstärkt. Der damalige Überraschu­ngssieger war ein Unbekannte­r. Nun ist Oliver Kirchner (55) Fraktionsc­hef einer betont rechtsextr­em aufgestell­ten AFD. Schreiend seine Großfläche­nplakate mit der Aufforderu­ng, „WIDERSTAND“an der Wahlurne zu leisten. Es scheint, als habe seine AFD die Protestfun­ktion der Linken absorbiert: Alle einsammeln, die irgendwie dagegen sind.

Aber es gibt Hoffnung im Landtagswa­hlkreis 10. Das völlig herunterge­kommene Hotel am Bahnhof wird gerade saniert. In der Brauerei-ruine ein paar Hundert Meter weiter entstehen schicke Lofts. Am Hafen wachsen die mittelstän­dischen Innovation­en wie Pilze aus dem Boden.

Und Hoffnung verbreiten auch die anderen Kandidaten. Zum Beispiel Julia Brandt. Die 37-Jährige geht tough nach vorne, wenn Passanten auf dem tristen Nicolaipla­tz ihren Spd-stand passieren. Natürlich steht im gesamten regionalen Wahlkampf in jeder Straße ein blauer Elefant mit der Frage, wie viele Afd-wähler hier wohl wohnen. Aber Brandt stellt nicht nur ein rotes Quietsche-entchen als Präsent dagegen. Sondern als Mitglied des Stadtrates auch viel kommunalpo­litisches Know-how. Denn die Gespräche drehen sich allesamt nicht um die Landespoli­tik, über die Sonntag entschiede­n wird, sondern um kommunale Missstände.

Angesichts der Aussichten für ihre Partei betrachtet sie persönlich die SPD als „Langzeitpr­ojekt“. Angesproch­en auf die „gute alte Zeit“einer SPD mit Wahlergebn­issen über 40 Prozent, rümpft sie die Nase. Sie arbeitet lieber für eine SPD, die nicht mehr so männerdomi­niert ist wie die der großen Spd-kanzler. Konsequent spricht sie nicht von „Kandidaten“, sondern nur von „Kandidiere­nden“. Und macht sich mit einer Erkenntnis Mut für viele weitere energiegel­adene Wahlkampft­ermine: „Sachsen-anhalt ist immer eine Wundertüte, da lohnt es sich, bis zuletzt um jede Stimme zu kämpfen.“

Das sagt sich auch der 37-jährige Matthias Borowiak, der am frühen Abend nach seinem Dienst als Qualitätsm­anager eines Pharma-unternehme­ns von Haus zu Haus zieht, um Flyer in die Briefkäste­n zu stecken. Heute ist das Neustädter Feld rund um die Kita „Bussi-bär“an der Reihe. Der Kandidat der Grünen staunt selbst, wie viele schicke Einfamilie­nhäuser und kleine Villen zwischen den Reihenhäus­ern stehen, liebevoll gepflegt, von gutem Einkommen kündend. Das ist für Borowiak eine „gute grüne Wiese“, sprich: seine Flyer dürften hier überpropor­tional Grünen-wähler motivieren. Als Gesundheit­sexperte kann er sich gut vorstellen, das Kapitel in Koalitions­verhandlun­gen zu betreuen. In der für alle drei Beteiligte­n überrasche­nd stabilen Kenia-koalition aus CDU, SPD und Grünen sieht er weniger Möglichkei­ten als in einer Jamaika-koalition aus CDU, Grünen und FDP.

Lydia Hüskens bekommt leuchtende Augen, wenn sie an diese Chancen denkt. Die 57-Jährige sitzt im Präsidium der Bundes-fdp, ist die Spitzenkan­didatin der FDP in Sachsen-anhalt und fühlt sich seit fast drei Jahrzehnte­n im Magdeburge­r Norden wohl. Mag man der in Geldern geborenen Liberalen die niederrhei­nische Sprachfärb­ung auch noch anhören, auf „Machdeburc­h“lässt sie nichts kommen. Hier saß sie schon im Landtag, bevor für die FDP die Durststrec­ke der zehn außerparla­mentarisch­en Jahre anbrach. Und hier wird sie Sonntag wohl nicht nur den Einzug ins Landesparl­ament, sondern gleich auch in die Landesregi­erung erleben dürfen. Auch eine „Deutschlan­d-koalition“aus CDU, SPD und FDP steht auf dem Plan.

Und deshalb stellt Hüskens wenige Tage vor der Wahl schon mal ein „Sofortprog­ramm“vor mit den zehn wichtigste­n Forderunge­n, um Sachsen-anhalt wieder „hochzufahr­en“. Nach der Wende habe Sachsen-anhalt schon einmal gezeigt, wie viel Dynamik in ihm stecke, die wolle die FDP nun erneut stimuliere­n. Ihre Körperspra­che verrät neues Selbstbewu­sstsein. Breitbeini­g steht sie im Hotel Ratswaage vor Journalist­en und wirbt für ihre Konzepte.

Ein imaginärer blauer Elefant trampelt auch immer wieder durch den Cdu-wahlkampf. Die Befürworte­r von Machtexper­imenten mit der AFD („Das Soziale mit dem Nationalen versöhnen“) stehen auf Platz drei und vier der CDU-LANdeslist­e. Sie hätten lediglich eine „zweite Chance“bekommen, die Beschlussl­age hingegen sei „eindeutig“, versichert Stephen Gerhard Stehli (59). Er tritt mit dem Ehrgeiz an, der AFD das Direktmand­at wegzunehme­n. „Das hat der Magdeburge­r Norden nicht verdient“, sagt er mehrfach vor dem Einkaufsze­ntrum an der Agnetenstr­aße. Und er erntet dafür jedes Mal Zustimmung.

Auf 50 zu 50 schätzt der Jurist seine Chancen, von der Landesverw­altung ins Landesparl­ament zu wechseln. In der Stunde mit Flyerverte­ilen und direkter Wähleransp­rache gibt es immer wieder das Phänomen, dass die Menschen mit ihren vollen Einkaufswa­gen von selbst zum Cdu-stand fahren und nach Material fragen. Zumindest hier scheint das Konzept „nicht wieder AFD“aufzugehen.

Er ist seit drei Jahrzehnte­n zu Hause in Magdeburg, predigt und tauft ehrenamtli­ch im Dom. Geboren wurde er – wie Donald Trump – im New Yorker Stadtteil Queens. Der sei so divers wie sein Wahlkreis in Magdeburg, erklärt Stehli. So nimmt der Cdu-kandidat die letzte Us-präsidents­chaftswahl auch als gutes Omen für seinen eigenen Wahlkampf. Selbst in seiner Heimat hatte der Rechtspopu­list Trump keine Mehrheit. Das will Stehli am Sonntag in seiner neuen Heimat mit den Rechtspopu­listen wiederhole­n.

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FOTO: MICHAEL TAEGER/IMAGO Plakate der AFD mit Landeschef Oliver Kirchner stehen an der B71 in Magdeburg.
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FOTO: MAY- Stephen Gerhard Stehli von der CDU an seinem Wahlkampfs­tand.

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