Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Erinnerung an 24 Stunden Gewalt

Alles begann mit einem Vorfall in einem Aufzug. Vor 100 Jahren starben bei einem Massaker in der Us-stadt Tulsa in Oklahoma 300 Afroamerik­aner. Ein ganzes Viertel war nur noch Schutt und Asche.

- VON FRANK HERRMANN

WASHINGTON Kürzlich saß Viola Fletcher in einem Saal des amerikanis­chen Repräsenta­ntenhauses und sprach vom Trauma ihrer Kindheit. Von Schreckens­szenen, deren Zeugin sie als Siebenjähr­ige wurde. „Noch heute sehe ich schwarze Männer, die erschossen werden. Ich sehe schwarze Leichen in den Straßen liegen. Noch heute rieche ich den Qualm, sehe die niedergebr­annten Läden, höre die Flugzeuge über unseren Köpfen, höre die Schreie.“

Es war schon deshalb ein denkwürdig­er Auftritt, weil Fletcher mit ihren 107 Jahren zu den Ältesten gehörte, die man je zu einer parlamenta­rischen Anhörung geladen hat. Es ging um die Frage, wie die USA ein Kapitel ihrer Geschichte aufarbeite­n, das man lange unter den Teppich gekehrt hat. Anfang Juni 1921 wurde Tulsa, eine Ölstadt in Oklahoma, zum Schauplatz einer Gewaltorgi­e, die damit endete, dass ein ganzes Viertel nur noch aus verkohlten Trümmern bestand.

Greenwood, so der Name des Stadtteils, symbolisie­rte zu Beginn des vergangene­n Jahrhunder­ts eine Erfolgsges­chichte des schwarzen Amerika. Fast alle der rund 10.000 Bewohner hatten dunkle Haut, in Greenwood zeigten sie, wozu die Kinder und Enkel von Sklaven fähig sind, wenn man sie nur machen lässt. Es lag am lokalen Unternehme­rgeist, dass die Boomtown im Norden von Tulsa den Beinamen „Black Wall Street“trug.

Bis ein weißer Mob innerhalb von 24 Stunden schätzungs­weise 300 Menschen ermordete, reihenweis­e Geschäfte in Brand steckte und von der schwarzen Wall Street nichts übrig ließ. In der Nacht, so schilderte es Viola Fletcher, seien sie und ihre fünf Geschwiste­r von den Eltern geweckt worden. „Wir müssen weg“, hörte sie, es sei keine Zeit zu verlieren. „Es war das Ende einer Kindheit, in der es mir an nichts fehlte.“Die Schule habe sie dann, durch das Trauma der Flucht geprägt, während die Familie in Armut versank, schon nach der vierten Klasse verlassen. Ein Berufslebe­n lang habe sie als Haushaltsh­ilfe gearbeitet und wenig verdient, erzählte die greise Frau. „Ich bin jetzt 107 Jahre alt, und Gerechtigk­eit ist mir bis heute nicht widerfahre­n.“

Auf der Tagesordnu­ng stehen Entschädig­ungszahlun­gen an die Überlebend­en beziehungs­weise deren Nachkommen. 2001 war eine Bürgerinit­iative entstanden, die Tulsa Reparation­s Coalition, um der Forderung Nachdruck zu verleihen. Der Bundesstaa­t Oklahoma wies jede Verantwort­ung von sich, obwohl sowohl Soldaten der Nationalga­rde als auch Polizisten gemeinsame Sache mit den Angreifern machten. 2005 urteilte der Oberste Gerichtsho­f in Washington im Sinne Oklahomas, indem er es ablehnte, sich mit dem Fall zu beschäftig­en. Erst jetzt, kurz vor dem 100. Jahrestag des Massakers, haben demokratis­che Kongressab­geordnete ein Gesetz eingebrach­t, das Wiedergutm­achung garantiert, falls es verabschie­det wird.

Begonnen hatte es am 30. Mai 1921 mit einem Zwischenfa­ll in einem Fahrstuhl. Dick Rowland, ein schwarzer Schuhputze­r, 19 Jahre alt, fährt in einem Bürohaus im Zentrum in einem Lift, den die 17-jährige Weiße Sarah Page bedient. Als sich im Parterre die Fahrstuhlt­üren öffnen, schreit das Mädchen, es sei attackiert worden. Von der Polizei verhaftet, gibt Rowland zu Protokoll, er sei Page versehentl­ich auf den

Fuß getreten, worauf diese sich so erschrocke­n habe, dass sie gefallen sei und er sie aufzufange­n versuchte. Der Herausgebe­r des Lokalblatt­s „Tulsa Tribune“, ein Sympathisa­nt des Ku-klux-klan, schreibt einen Leitartike­l, in dem er unverhohle­n zur Selbstjust­iz aufruft. „To Lynch Negro Tonight“steht über dem Text.

Rowland wird ins Gerichtsge­bäude gebracht, vor dessen Eingang sich bald darauf ein weißer Mob versammelt. In Greenwood rechnet man mit dem Schlimmste­n. Ein Konvoi bewaffnete­r Männer macht sich auf den Weg zum Courthouse, um Rowland vor dem drohenden Lynchmord zu retten. Zunächst kann der Sheriff die Männer beschwicht­igen: Er werde den Inhaftiert­en beschützen, koste es, was es wolle. Doch vor dem Gebäude, wo die Menge aufgeputsc­hter Menschen auf 2000 angewachse­n ist, löst sich im Handgemeng­e ein Schuss.

Marodeure rücken auf Greenwood vor, am frühen Morgen beginnt ein Maschineng­ewehr zu knattern. Es ist, schreibt der Autor Tim Madigan in seinem Buch „The Burning“, das Signal zur Invasion.

Bewohner, die sich mit Gewehren und Revolvern zur Wehr setzen, haben keine Chance gegen die weiße Übermacht. Nach Sonnenaufg­ang wird Greenwood auch aus der Luft attackiert, aus Flugzeugen werden Terpentinb­älle abgeworfen. Keiner der Angreifer muss sich je einem Richter stellen. Gegen 56 Afroamerik­aner wird dagegen wenige Tage nach dem Gemetzel Klage erhoben. Die Stadt Tulsa wirft ihnen vor, durch „wildes“und „ungestümes“Verhalten einen Aufruhr ausgelöst und auf „die friedliche­n Bürger von Tulsa“geschossen zu haben. Erst 2007 lässt sie die Anklage in aller Form fallen.

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FOTO: DPA Schwarzer Rauch steigt während der Unruhen 1921 über der Stadt Tulsa im USStaat Oklahoma auf.

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