Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Alltag im Ausnahmezustand
Die Pandemie hat Nähe unterdrückt, Energie geraubt und manche Idee erstickt. Vieles ist falsch an dieser Zeit. Aber es gibt auch Lichtblicke.
Der Impuls ist immer noch da. Das Zucken in der Hand, um das Gegenüber zu begrüßen. Der kurze Schritt auf den anderen zu, bevor man abrupt innehält. Umarmen geht ja nicht. Händeschütteln verboten. So viele Monate leben wir nun schon auf Distanz. Homeschooling, Homeoffice, Aha-regeln... All das gehört zu unserem neuen Alltag.
Fast schon ein wenig ungläubig sehen wir neuerdings wieder Bilder von Menschen in Biergärten und am Nordseestrand. Es ist ein bisschen so, wie wenn man alte Filme schaut: „Sieh mal, so war das damals.“Von Normalität, wie wir sie einmal kannten, sind wir noch immer weit entfernt. Statt über geplante Verabredungen, Konzerte oder Reisen unterhalten wir uns über Inzidenzzahlen. Beinahe jeder kann neuerdings mitreden, wenn von Pcr-tests oder Mutationen die Rede ist. Und natürlich kennen wir uns aus mit Corona-impfstoffen, deren Herstellern und sämtlichen Wirkungsgraden. Hat das schon einmal jemand beim Grippevakzin hinterfragt?
Mal ehrlich: Wer kann sich nach dieser Ewigkeit im Ausnahmezustand – der Sommer war nur eine Ahnung von Unbeschwertheit – überhaupt noch vorstellen, plötzlich wieder Mensch an Mensch in der Kneipe, im Kino oder im Theater zu sitzen? Ohne Maske einzukaufen? Schwer auszumalen. Der Griff zum Mund-nasen-schutz ist schon beinahe zum Reflex geworden. In der Tasche, im Rucksack, im Tornister, im Auto – Masken sind überall.
Das ist eine seltsame Nebenwirkung dieser Zeit. Die Gewöhnung an das Ungewöhnliche. Die Ausnahme ist zur Regel geworden. Dabei sind nicht die Grundrechte die Ausnahme, sondern deren Einschränkung. Wer hätte gedacht, dass Juristen dies im Deutschland des 21. Jahrhunderts einmal im Fernsehen betonen müssten?
Längst haben sich während der Pandemie diverse Begleiterscheinungen eingeschlichen, die man zuvor nie für möglich gehalten hätte. Zum Thema gute Vorsätze für 2021 sagte eine Moderatorin im Radio im Januar: „Vielleicht mal wieder irgendwann im Laufe des Jahres eine richtige Hose anziehen.“Ein guter Gag, der nicht nur zum Lachen bringt, sondern auch nachdenklich macht. Denn ein Stück weit haben wir uns alle längst bequem eingerichtet im eigenen Mikrokosmos. Wir sind mittlerweile mental angepasst an den Mangel an realen Begegnungen jenseits digitaler Meetings. Der Ruhemodus macht träge. Selbst die Kinder. Anfangs war deren Sehnsucht nach Klassenkameraden, nach Sport und Verabredungen noch groß. Mit jeder Woche der Isolation verblassten diese Bedürfnisse ein Stückchen mehr. Trotz Homeschooling und Wechselunterricht überwog bei ihnen doch mit der Zeit das subjektive Gefühl vom Ferienmodus: länger aufbleiben, (etwas) länger schlafen. Die Motivation für den anfangs noch spannenden Videounterricht ist geschwunden. Höchste Zeit, dass nun in Nordrhein-westfalen wieder Präsenzunterricht für alle begonnen hat.
Diese Krise hat viele Schattenseiten. Aber auch Licht. Das Coronavirus Sars-cov-2 hat zum kollektiven Herunterfahren gezwungen. Nahezu keine Verabredungen, kein Kino, keine Sport- oder Kulturveranstaltungen, keine Kindergeburtstage. Leere im Terminkalender. Das bringt viel Ruhe in den sonst manchmal allzu vollgepackten Alltag. Und verschafft Zeit. Wandern, Picknick, Radtouren, Spiele und Heimkino gab‘s zwar auch schon vor der Pandemie – aber seltener. Und ja, sogar das oft verfluchte Homeschooling hat seine Vorteile: Das Pflichtkorsett im Distanzunterricht ist weniger straff. Und zwischendurch mal mit den Kindern zu plaudern und gemeinsam Pause zu machen, ist etwas Schönes.
Trotzdem ist so vieles falsch an dieser Zeit. Der Mensch ist ein soziales Wesen und wird nicht als Einzelkämpfer geboren. Wir alle brauchen ein soziales Miteinander. Vor allem die Jüngsten. Sie müssen in die Schule, zu ihren gleichaltrigen Freunden und brauchen die Möglichkeiten für Sport und Hobbys. Die Folgen mangelnder Bewegung und sozialer Kontakte beklagen Mediziner schon viel zu lange. Wie gravierend nach der Pandemie die Bildungslücken bei Kindern und Jugendlichen sein werden und wie sehr die Schere zwischen sozialen Schichten weiter auseinanderklaffen wird, das kann heute niemand absehen.
Nun kehren die ersten Freiheiten langsam zurück, sie stehen noch auf wackligem Fundament. Bis wir einander ungezwungen die Hände reichen können, wird es noch dauern. Auch die Masken werden wir vorerst nicht an den Nagel hängen können. Bleibt nur die Hoffnung auf einen Turbo in der Impfkampagne und das Besinnen auf das Wesentliche: das Miteinander im kleinen und im großen Kosmos.