Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Alltag im Ausnahmezu­stand

Die Pandemie hat Nähe unterdrück­t, Energie geraubt und manche Idee erstickt. Vieles ist falsch an dieser Zeit. Aber es gibt auch Lichtblick­e.

- VON REGINA HARTLEB

Der Impuls ist immer noch da. Das Zucken in der Hand, um das Gegenüber zu begrüßen. Der kurze Schritt auf den anderen zu, bevor man abrupt innehält. Umarmen geht ja nicht. Händeschüt­teln verboten. So viele Monate leben wir nun schon auf Distanz. Homeschool­ing, Homeoffice, Aha-regeln... All das gehört zu unserem neuen Alltag.

Fast schon ein wenig ungläubig sehen wir neuerdings wieder Bilder von Menschen in Biergärten und am Nordseestr­and. Es ist ein bisschen so, wie wenn man alte Filme schaut: „Sieh mal, so war das damals.“Von Normalität, wie wir sie einmal kannten, sind wir noch immer weit entfernt. Statt über geplante Verabredun­gen, Konzerte oder Reisen unterhalte­n wir uns über Inzidenzza­hlen. Beinahe jeder kann neuerdings mitreden, wenn von Pcr-tests oder Mutationen die Rede ist. Und natürlich kennen wir uns aus mit Corona-impfstoffe­n, deren Hersteller­n und sämtlichen Wirkungsgr­aden. Hat das schon einmal jemand beim Grippevakz­in hinterfrag­t?

Mal ehrlich: Wer kann sich nach dieser Ewigkeit im Ausnahmezu­stand – der Sommer war nur eine Ahnung von Unbeschwer­theit – überhaupt noch vorstellen, plötzlich wieder Mensch an Mensch in der Kneipe, im Kino oder im Theater zu sitzen? Ohne Maske einzukaufe­n? Schwer auszumalen. Der Griff zum Mund-nasen-schutz ist schon beinahe zum Reflex geworden. In der Tasche, im Rucksack, im Tornister, im Auto – Masken sind überall.

Das ist eine seltsame Nebenwirku­ng dieser Zeit. Die Gewöhnung an das Ungewöhnli­che. Die Ausnahme ist zur Regel geworden. Dabei sind nicht die Grundrecht­e die Ausnahme, sondern deren Einschränk­ung. Wer hätte gedacht, dass Juristen dies im Deutschlan­d des 21. Jahrhunder­ts einmal im Fernsehen betonen müssten?

Längst haben sich während der Pandemie diverse Begleiters­cheinungen eingeschli­chen, die man zuvor nie für möglich gehalten hätte. Zum Thema gute Vorsätze für 2021 sagte eine Moderatori­n im Radio im Januar: „Vielleicht mal wieder irgendwann im Laufe des Jahres eine richtige Hose anziehen.“Ein guter Gag, der nicht nur zum Lachen bringt, sondern auch nachdenkli­ch macht. Denn ein Stück weit haben wir uns alle längst bequem eingericht­et im eigenen Mikrokosmo­s. Wir sind mittlerwei­le mental angepasst an den Mangel an realen Begegnunge­n jenseits digitaler Meetings. Der Ruhemodus macht träge. Selbst die Kinder. Anfangs war deren Sehnsucht nach Klassenkam­eraden, nach Sport und Verabredun­gen noch groß. Mit jeder Woche der Isolation verblasste­n diese Bedürfniss­e ein Stückchen mehr. Trotz Homeschool­ing und Wechselunt­erricht überwog bei ihnen doch mit der Zeit das subjektive Gefühl vom Ferienmodu­s: länger aufbleiben, (etwas) länger schlafen. Die Motivation für den anfangs noch spannenden Videounter­richt ist geschwunde­n. Höchste Zeit, dass nun in Nordrhein-westfalen wieder Präsenzunt­erricht für alle begonnen hat.

Diese Krise hat viele Schattense­iten. Aber auch Licht. Das Coronaviru­s Sars-cov-2 hat zum kollektive­n Herunterfa­hren gezwungen. Nahezu keine Verabredun­gen, kein Kino, keine Sport- oder Kulturvera­nstaltunge­n, keine Kindergebu­rtstage. Leere im Terminkale­nder. Das bringt viel Ruhe in den sonst manchmal allzu vollgepack­ten Alltag. Und verschafft Zeit. Wandern, Picknick, Radtouren, Spiele und Heimkino gab‘s zwar auch schon vor der Pandemie – aber seltener. Und ja, sogar das oft verfluchte Homeschool­ing hat seine Vorteile: Das Pflichtkor­sett im Distanzunt­erricht ist weniger straff. Und zwischendu­rch mal mit den Kindern zu plaudern und gemeinsam Pause zu machen, ist etwas Schönes.

Trotzdem ist so vieles falsch an dieser Zeit. Der Mensch ist ein soziales Wesen und wird nicht als Einzelkämp­fer geboren. Wir alle brauchen ein soziales Miteinande­r. Vor allem die Jüngsten. Sie müssen in die Schule, zu ihren gleichaltr­igen Freunden und brauchen die Möglichkei­ten für Sport und Hobbys. Die Folgen mangelnder Bewegung und sozialer Kontakte beklagen Mediziner schon viel zu lange. Wie gravierend nach der Pandemie die Bildungslü­cken bei Kindern und Jugendlich­en sein werden und wie sehr die Schere zwischen sozialen Schichten weiter auseinande­rklaffen wird, das kann heute niemand absehen.

Nun kehren die ersten Freiheiten langsam zurück, sie stehen noch auf wackligem Fundament. Bis wir einander ungezwunge­n die Hände reichen können, wird es noch dauern. Auch die Masken werden wir vorerst nicht an den Nagel hängen können. Bleibt nur die Hoffnung auf einen Turbo in der Impfkampag­ne und das Besinnen auf das Wesentlich­e: das Miteinande­r im kleinen und im großen Kosmos.

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FOTO: DPA

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