Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wir müssen neue Brücken bauen

GASTBEITRA­G Der Bundesauße­nminister wirft anlässlich der Unterzeich­nung des deutsch-polnischen Nachbarsch­aftsvertra­gs vor 30 Jahren einen Blick auf das Verhältnis der beiden Länder.

- VON HEIKO MAAS

Der 17. Juni ist einer dieser zwiespälti­gen Tage in der deutschen Geschichte. Zum einen erinnert er uns an die blutige Niederschl­agung des Volksaufst­ands 1953 in der DDR und damit an die Teilung Deutschlan­ds und Europas.

Zum anderen aber wurde an einem 17. Juni ebendiese Teilung ein großes Stück weit überwunden. So wie die Aussöhnung mit Frankreich zum Grundstein für die europäisch­e Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde, so ist der am 17. Juni 1991 unterzeich­nete Nachbarsch­aftsvertra­g mit Polen unerlässli­ch für das Zusammenwa­chsen Europas zwischen Ost und West. Nach den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg und der Spaltung des Kalten Kriegs wurde er zum Symbol der polnischen Versöhnung­sbereitsch­aft. Diese hat es uns in den letzten drei Jahrzehnte­n ermöglicht, gemeinsam in die Zukunft zu blicken, ohne die Vergangenh­eit auszublend­en.

All das ist heute dreifach aktuell. Erstens: Damals wie heute steht Europa vor einer geopolitis­chen Zeitenwend­e. Mächte wie China und Russland fordern unsere Demokratie­n und die internatio­nale Ordnung immer offener heraus. Krisen und Konflikte umlagern unseren Kontinent. Darauf muss Europa reagieren.

Zweitens lehrt die Erfahrung der 1990er, wie wir solchen Umbrüchen gegenübert­reten: indem wir die Einheit Europas stärken.

Und drittens sind Deutschlan­d und Polen – in der Mitte Europas – gefordert, in solchen Umbruchsze­iten Brückenbau­er zu sein. Nur wenn wir Ost und West zusammenha­lten, werden wir Europa stark machen für neue Zeiten.

Seit dem Nachbarsch­aftsvertra­g haben sich unsere Beziehunge­n revolution­iert. Dies mag dem Eindruck mancher Beobachter widersprec­hen, die vor allem auf Differenze­n im politische­n Tagesgesch­äft blicken. Mein Eindruck aber ist: der polnisch-deutsche Alltag, das sind in erster Linie die über 850.000 Polinnen und Polen, die in Deutschlan­d leben und arbeiten. Das sind Zehntausen­de Grenzpendl­er, wo früher Schlagbäum­e und Zäune standen. Das sind Tausende Unternehme­n, die unsere Wirtschaft­sräume auf das Engste verflochte­n haben. Und das sind politische Partner, die ganz selbstvers­tändlich in der EU und in der Nato zusammenar­beiten.

Ein Grund dafür ist vielleicht auch, dass sich unser Blick auf die Vergangenh­eit in den letzten Jahren angenähert hat. Das Leid der polnischen Zivilbevöl­kerung im Zweiten Weltkrieg – lange Zeit nur ein Splitter in der deutschen Erinnerung – ist stärker in unser Bewusstsei­n gerückt. Großen Anteil daran hat ein Beschluss des Bundestage­s aus dem vergangene­n Jahr, wonach in Berlin ein Ort des Erinnerns und der Begegnung für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriege­s und der nationalso­zialistisc­hen Besatzung Polens entstehen soll. An dessen Umsetzung arbeiten wir derzeit mit Hochdruck.

Und ich bin überzeugt: Durch dieses gemeinsame Erinnern wächst auch das gegenseiti­ge Verständni­s für manches, was uns bis heute trennt. Polen konnte in den Jahrzehnte­n nach der Besatzung durch Nazi-deutschlan­d nicht frei über sein Schicksal entscheide­n. Begriffe wie „Nation“und „Souveränit­ät“sind in Polen von dieser Zeit besonders geprägt. Und auch manch polnische Skepsis gegenüber einer weiteren Vertiefung der europäisch­en Integratio­n hat dort ihren Ursprung.

Gerade wir Deutschen sollten diese Perspektiv­e unseres Nachbarn nicht aus dem Auge verlieren. Das gilt für diejenigen, die Polen aufgrund der Defizite in Sachen Rechtsstaa­t oder Pressefrei­heit am liebsten abschreibe­n würden. Das gilt aber auch für die Vertreter eines europäisch­en Hurra-föderalism­us, der Europa absehbar erneut in Ost und West spalten würde.

Beides kann nicht die Haltung Deutschlan­ds sein. Vielmehr wollen wir dieses Jubiläum nutzen, um gemeinsam mit Polen nach vorne zu schauen. Dann werden wir sehen: Polnische und deutsche Interessen liegen oft näher beieinande­r, als wir denken. Wir wollen ein starkes, handlungsf­ähiges Europa, das seinen Teil zur transatlan­tischen Partnersch­aft beiträgt. Dann aber dürfen wir Europas Außenpolit­ik nicht auf den kleinsten gemeinsame­n Nenner reduzieren. Wir wollen, dass Europa glaubwürdi­g eintritt für seine Werte in der Welt. Dann dürfen wir sie im Innern jedoch nicht untergrabe­n.

Und wir wollen kein „Europa der zwei Geschwindi­gkeiten“, das Polen und andere Länder Mittel- und Osteuropas absehbar zu Mitglieder­n zweiter Klasse degradiere­n würde. Dann aber müssen wir gemeinsam Vorschläge machen, wie wir die Europäisch­e Union weiterentw­ickeln und stärken wollen.

Kurz gesagt: Wir müssen neue Brücken bauen zwischen Deutschlan­d und Polen, zwischen West und Ost in Europa – heute genauso wie vor 30 Jahren.

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