Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Spektakulä­re Fehlzündun­g

Die Dystopie „Chaos Walking“schildert eine Welt, in der nur Männer leben.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Die Gedanken sind frei – von solch wohlklinge­nden Volkslied-weisheiten können die Männer in der Neuen Welt des Jahres 2257 nur träumen. Als erste Siedlerwel­le sind sie auf dem 64 Reisejahre entfernten Planeten gelandet, nachdem die Erde zunehmend unbewohnba­r geworden war. Dort erwarteten sie frische Luft, Wasser, Wälder, ewiges Tageslicht, eine wenig gastfreund­liche einheimisc­he Spezies und ein Phänomen, durch das ihr Leben grundlegen­d verändert wird. In der Atmosphäre der neuen Heimat werden alle Gedanken durch eine innere Stimme nach außen transporti­ert und teilweise auch visuell sichtbar gemacht. Betroffen sind ausschließ­lich Männer.

Was wird aus einem Mann, wenn alle hören, was er denkt? Was macht diese Geheimnisl­osigkeit mit einer Gesellscha­ft? Welche Auswirkung­en hat es auf das Geschlecht­erverhältn­is, wenn das Bewusstsei­n der Männer ein offenes Buch und die Gedanken der Frauen weiterhin versiegelt sind? Dieses Gedankenex­periment verfolgte Patrick Ness in seinem dreiteilig­en Roman „Chaos Walking“(deutscher Titel „New World“), der nun nach einer langwierig­en Produktion­sgeschicht­e unter der Regie von Doug Liman („Edge of Tomorrow“) ins Kino kommt.

Wie „Die Tribute von Panem“oder „Die Bestimmung“lebt auch diese dystopisch­e Fantasie von einer klaren Prämisse, die viele interessan­te Fragen nicht nur über die Zukunft der Menschheit, sondern auch über das persönlich­e Verhalten unter radikal veränderte­n Lebensbedi­ngungen aufwirft. In der ersten Kinostunde ist man neugierig auf diese archaische Welt von Prentissto­wn, wo alle Frauen verschwund­en sind und der Bürgermeis­ter (Mads Mikkelsen) als oberster Gedankenma­nipulator mit harter Hand regiert.

Der junge Todd Hewitt ( Tom Holland) ist hier geboren und aufgewachs­en und hat noch nie eine Frau gesehen – bis eines Tages Viola (Daisy Ridley) nach der Bruchlandu­ng ihrer Raumfähre vor ihm steht. Schon bald ist klar, dass die Überlebens­chancen der einzigen Frau in der Männerdomä­ne niedrig sind und Todd mit ihr flüchten muss, um die nachfolgen­den Siedler auf dem Mutterschi­ff zu warnen.

So brechen die beiden auf in die unbekannte Welt des Restplanet­en, und mit Reisebegin­n scheint der Film sein Interesse an seiner vielverpre­chenden Prämisse zunehmend zu verlieren. Holland („Spider-man: Homecoming“) und Ridley („Star Wars: Das Erwachen der Macht“) machen dank einschlägi­ger Genre-erfahrung in den Kampf- und Actionszen­en eine gute Figur, aber die angehende Liebesgesc­hichte zwischen dem Mann mit dem transparen­ten Bewusstsei­n und der geheimnisv­ollen Frau bleibt weit hinter ihren Möglichkei­ten zurück.

„Chaos Walking“baut ein interessan­tes, intellektu­elles Setting auf, um dann im Fluchtmodu­s hindurchzu­hetzen, ohne das narrative Potenzial zu beachten. Die ursprüngli­ch geplante Weiterführ­ung als Franchise ist nach dieser spektakulä­ren Fehlzündun­g wohl nicht zu erwarten.

Info „Chaos Walking“, USA 2020, Regie: Doug Liman, mit Tom Holland, Daisy Ridley, Mads Mikkelsen, 109 Min.

 ?? FOTO: DPA ?? Mads Mikkelsen (2.v.l.) spielt den Bürgermeis­ter von Prentissto­wn.
FOTO: DPA Mads Mikkelsen (2.v.l.) spielt den Bürgermeis­ter von Prentissto­wn.

Newspapers in German

Newspapers from Germany