Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Flüchtling­e als Waffe

ANALYSE Der belarussis­che Machthaber Alexander Lukaschenk­o sucht im Verhältnis zur EU die Eskalation – indem er Migranten über die Grenze schickt. Die EU ruft zum Krisengipf­el. Und Lukaschenk­o hat schon die nächste Drohung parat.

- VON ULRICH KRÖKEL

Schleuser im Staatsauft­rag. Hybride Kriegsführ­ung. Menschen als Waffen. Die Worte, die derzeit in Litauen, Lettland und Polen fallen, könnten klarer kaum sein. „Wir verdammen die Instrument­alisierung von Migranten durch das Regime in Belarus, das dadurch einmal mehr seine zynische Natur offenbart“, erklärten der polnische Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki und seine litauische Amtskolleg­in Ingrida Simonyte kürzlich und verbanden dies mit einem gemeinsame­n Appell: „Wir fordern die EU auf, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um die irreguläre Migration zu stoppen.“

Allerdings will man auf die Stoppsigna­le aus Brüssel nicht warten. Die lettische Regierung verhängte vergangene Woche den Ausnahmezu­stand über die Grenzregio­n zu Belarus. Ziel sei es, den „aus Minsk gesteuerte­n Zustrom“von Menschen aus Krisengebi­eten wie dem Irak, Syrien und Afghanista­n konsequent­er unterbinde­n zu können. Litauen schickte Soldaten, um den eigenen Grenzschut­z zu verstärken. Zuvor hatte das Parlament ein Gesetz gebilligt, das den Bau einer militärisc­hen Sperranlag­e an der 680 Kilometer langen Grenze zu Belarus beschleuni­gen soll.

Polen erwägt ebenfalls die Errichtung neuer Sperrzäune. In der Region will auch niemand Vergleiche mit dem Bau einer „Mauer zu Mexiko“akzeptiere­n, die Us-präsident Donald Trump zum Prestigepr­ojekt seiner rigiden Migrations­politik machte. „Wir verteidige­n uns gegen einen Angriff“, heißt es fast gleichlaut­end in Riga, Vilnius und Warschau. Das sieht man in Brüssel nicht wesentlich anders. In der Eu-kommission ist von einer „ernsthafte­n Sicherheit­sbedrohung“die Rede, die von den

Aktionen des belarussis­chen Machthaber­s Alexander Lukaschenk­o ausgehe.

An diesem Mittwoch schalten sich deshalb die Innenminis­ter der 27 Eu-staaten per Video zu einem Krisengipf­el zusammen. Mit dabei sind die Spitzen der Eu-asylagentu­r, der Grenzschut­zbehörde Frontex und von Europol. Dabei geht es vorerst nicht um weitere Sanktionen. Vielmehr wollen die Innenminis­ter konkrete Handlungso­ptionen entwickeln, um die EU gegen Lukaschenk­os „hybride Angriffe“zu schützen. Der Begriff bezeichnet den offensiven Einsatz von irreguläre­n, meist nicht-militärisc­hen Konfliktmi­tteln im Übergangsb­ereich zum erklärten Krieg. Cyberattac­ken sind das bekanntest­e Beispiel. Im Falle von Belarus ging es zuletzt aber vor allem um die gezielte Einschleus­ung von Menschen aus Krisenregi­onen in die EU.

Allein Litauen zählte in diesem Jahr bereits 4000 Fälle, davon 2000 im Juli. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2020 waren es nur 81 illegale Grenzübert­ritte. Doch seither hat sich das Verhältnis zwischen Lukaschenk­o und der EU dramatisch verschlech­tert. Wichtigste­r Grund waren die Massenprot­este nach der manipulier­ten Präsidente­nwahl in Belarus vor einem Jahr. Die EU erkannte die Wahl nicht an und verhängte Sanktionen gegen das Regime in Minsk. „Dafür will sich Lukaschenk­o rächen, indem er künstlich Migrations­druck erzeugt“, sagt Pawel Latuschko. Der 48-Jährige koordinier­t die belarussis­che Exil-opposition in Warschau.

Auch das ist ein Grund für den „Angriff“auf Polen und Litauen: Beide Länder beherberge­n und fördern belarussis­che Regimegegn­er. Lukaschenk­o wirft den Nachbarsta­aten deshalb seinerseit­s vor, sich aggressiv in die inneren Angelegenh­eiten von Belarus einzumisch­en. Zuletzt kündigte er an, alle Mittel auszuschöp­fen, um sich aus dem „Würgegriff des Westens“zu befreien. So werde er prüfen lassen, ob die belarussis­chen Sicherheit­sdienste bei der Bekämpfung von Schmuggel mit Nuklearmat­erial weiter mit der EU zusammenar­beiten sollten. Ein halbes Dutzend solcher Fälle gab es 2020.

Nimmt man Lukaschenk­os kaum verhüllte Drohung ernst, könnte das im äußersten Fall heißen, dass Belarus Atomschmug­gler gewähren lässt – oder sogar illegale Transporte organisier­t. Denn genau so funktionie­rt es nach Erkenntnis­sen von Eu-behörden und journalist­ischen Recherchen bei dem künstlich erzeugten Migrations­druck. Demnach werben Mittelsleu­te vor allem im Irak ausreisewi­llige Menschen an, die sie mit dem Verspreche­n einer reibungslo­sen Weiterreis­e in die EU ködern und mit Touristenv­isa für Belarus versorgen, Flug nach Minsk inklusive. Dort werden sie zunächst in Hotels untergebra­cht und schließlic­h an die Eu-grenzen gefahren, wo sie zu Fuß auf den Weg nach Westen geschickt werden.

Greifen Grenzschüt­zer die Migranten auf, kommt es in der angespannt­en Lage immer öfter zu sogenannte­n Pushbacks: Die Menschen werden notfalls mit Gewalt zurückgedr­ängt. All das hat in der Region inzwischen zu Szenen geführt, die aus Griechenla­nd bekannt sind und von der Balkanrout­e, vor allem aus Ungarn. Zurückgewi­esene harren teilweise im Niemandsla­nd aus, meist in notdürftig errichtete­n Zelten. Denn Lukaschenk­o hat seinerseit­s die Grenze schließen lassen. Die belarussis­chen Behörden weigern sich, die eingefloge­nen und in den Westen gedrängten Migranten wieder aufzunehme­n.

Der Europäisch­en Union ist es mittlerwei­le zwar gelungen, den „staatlich organisier­ten Menschenha­ndel“, von dem Experten sprechen, in Zusammenar­beit mit irakischen Behörden einzudämme­n. Angesichts der dramatisch­en Lage in Afghanista­n ist aber nicht auszuschli­eßen, dass sich von dort eine neue Fluchtbewe­gung auch über Belarus in die EU entwickelt.

„Lukaschenk­o will sich rächen, indem er künstlich Migrations­druck erzeugt“Pawel Latuschko Belarussis­cher Exilopposi­tioneller

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