Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Ein bemerkenswertes Zweckbündnis
Spd-kanzlerkandidat Olaf Scholz und Ex-juso-chef Kevin Kühnert haben das Kriegsbeil begraben. Und nach der Wahl?
BERLIN Wer Olaf Scholz sehen will, muss erst einmal mit Kevin Kühnert singen. So ist das jedenfalls bei einem Wahlkampfabend der beiden wichtigsten Spd-männer. Jahrelang machten sie einander das Leben schwer. Jetzt sind sie ein bemerkenswertes Zweckbündnis eingegangen. Eine kleine OpenAir-bühne mitten im Berliner Bezirk Tempelhof-schöneberg: Der Finanzminister und Kanzlerkandidat lässt am Montagabend auf sich warten. Kühnert stimmt mit der Moderatorin ein Geburtstagsständchen für eine Genossin im Publikum an. Hier an der Berliner Spd-basis ist Kühnert der Junge von nebenan. In diesem Kiez mit 80 Prozent Mieteranteil ist er aufgewachsen. Hier klingelt er an Zehntausenden Haustüren, weil er ein Direktmandat für den Bundestag ergattern will.
Um die 200 Leute sind an dem verregneten Sommerabend unter ein Zeltdach geschlüpft. Es ist noch nicht so lange her, da hätte man den früheren Juso-chef an seinem Kapuzenpulli (jetzt trägt er meist dunkles Hemd) auf eine Bühne mit Scholz zerren müssen. Nun strahlt er, Scholz grinst. Weil nicht jeder den beiden das abkauft, spricht Kühnert die Vorbehalte offensiv an: „Ist das eigentlich nur eine große Scharade in der SPD? Nur ein Burgfrieden, um nach der Wahl wieder übereinander herzufallen?“Nein, sagt er: „Wir inszenieren nicht irgendwelche Handshake-bilder, wir kumpeln nicht rum.“
Das Spd-wahlprogramm haben sie zusammen geschrieben. Kühnert wurde gesehen, wie er leibhaftig Scholz-plakate klebt. Wer hat sich mehr verbogen? Scholz, der viele linke Kröten schlucken musste, um doch noch Kanzlerkandidat zu werden? Oder Kühnert, der die große Koalition sturmreif schoss, Scholz als Parteichef verhinderte und an diesem Abend den Hanseaten trotzdem fröhlich zum nächsten Bundeskanzler ausruft?
Beiden dürfte das herzlich egal sein. Sie müssen sich nicht mögen. Der Zweck heiligt in der Politik viele Mittel. Aktuell steigende Zustimmungswerte für die SPD zeigen, dass der Pakt funktioniert. Kühnert ist aus dem Revoluzzertum herausgewachsen. Er ist jetzt 32. Seit mehr als eineinhalb Jahren führt er als Vizevorsitzender eine noch immer 400.000 Mitglieder starke Volkspartei mit an. Mal eben aus der Hüfte gegen die Regierung schießen, den eigenen Vizekanzler mit einem
Tweet ärgern, das wäre unprofessionell. Nichts hasst Kühnert mehr. Der Sozialist ist Vollprofi. 24 Stunden, sieben Tage lang lebt er Politik. Als Mitarbeiter einer Berliner Senatsabgeordneten verdient er eher kleines Geld. Mit dem Bundestagsmandat hätte er erstmals größere Spielräume. Privat braucht er nicht viel. Sein größter Luxus: mit dem ICE zu Spielen von Fußballbundesligist Arminia Bielefeld zu gondeln. Kevin heißt er, weil seine Mutter für den früheren Hsv-stürmerstar Kevin Keegan schwärmte.
Spannend dürfte es nach der Wahl werden. Die Union malt als Schreckgespenst an die Wand: Wer Scholz wählt, bekommt Saskia Esken und Kühnert. Schattenkanzler Kühnert? Scholz jucken solche Spiele nicht. Gerade erst hat er die Spd-chefin als ministrabel geadelt. Als Kanzler bräuchte er zum Regieren den linken Parteiflügel. Auch Kühnert müsste mitspielen, Scholz den Rücken freihalten. Wäre eine erneute große Koalition denkbar?„nur über meine Leiche“, sagte Kühnert im letzten Jahr. Man darf ihn daran erinnern, sollte die SPD mit Union und FDP über eine Deutschland-koalition sprechen. Auch bei einer Ampel käme es für Kühnert zum Schwur. Auf die Vermögensteuer verzichten, damit FDP-CHEF Christian Lindner Scholz zum Kanzler macht?
Für den Spd-fraktionsvorsitz im künftigen Bundestag wird der niedersächsische Abgeordnete Matthias Miersch heiß gehandelt. Für Kühnert käme das in einer ersten Legislatur zu früh. Generalsekretär, das würde ihm gut zu Gesicht stehen. Rhetorisch ist er in der SPD eine Klasse für sich. Sein Kumpel Lars Klingbeil, der aktuell den Job hat, könnte aufsteigen, gemeinsam mit Manuela Schwesig Esken und Norbert Walter-borjans an der Doppelspitze ablösen. Schafft es Scholz ins Kanzleramt, würden viele Karten noch einmal neu gemischt. Dass Kevin Kühnert ein starkes Blatt auf der Hand hat, das steht in der SPD außer Frage.