Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Auf die harte Tour

Us-präsident Joe Biden verteidigt den Abzug aus Afghanista­n. Er gesteht keine Fehler ein und nimmt dafür verbale Prügel in Kauf.

- VON FRANK HERRMANN

WASHINGTON­MAN kennt das Stilmittel aus etlichen Fernsehans­prachen, die Joe Biden gehalten hat. Will er einer Passage besonderen Nachdruck verleihen, beugt er sich leicht nach vorn übers Pult und schaut sehr konzentrie­rt in die Kamera, als könnte er jeden Zuschauer einzeln ansprechen. Im East Room des Weißen Hauses bedient er sich der Mimik, um eine Kernaussag­e zu unterstrei­chen. „An diejenigen, die argumentie­ren, dass wir bleiben sollten“, sagt er und schickt drei rhetorisch­e Fragen hinterher. „Wie viele Generation­en von Amerikas Töchtern und Söhnen wollen Sie mich noch losschicke­n lassen, um in Afghanista­n in einem Bürgerkrie­g zu kämpfen, wenn die afghanisch­en Soldaten dazu nicht bereit sind?“Wie viele amerikanis­che Leben sei das wert? Wie viele Gräberreih­en auf dem Nationalfr­iedhof von Arlington?

Zu erleben ist ein Joe Biden, der selbstgewi­ss wirkt, in den Augen seiner Kritiker geradezu stur, jedenfalls nicht gewillt, über ein absolutes Minimum hinaus Fehler einzugeste­hen. Etwa eine zu optimistis­che Einschätzu­ng der Lage, die sicher beitrug zum Rückzugsch­aos, zu den erschütter­nden Szenen am Flughafen von Kabul. Es sei höchst unwahrsche­inlich, dass die Taliban alles überrennen und das ganze Land erobern, hatte der Us-präsident noch vor sechs Wochen orakelt. Nun geht er mit keiner Silbe auf die eigenen Irrtümer ein. Zwar spricht er von herzzerrei­ßenden Bildern, die die Welt aus Kabul erreichten. Der Abzug, räumt er ein, verlaufe chaotisch. Doch während Politiker anderswo von nicht zu beschönige­nden Fehlurteil­en sprechen, verteidigt er sich und seine Berater. „Wir hatten die Risiken klar im Auge. Wir waren auf jede Eventualit­ät vorbereite­t. Die Wahrheit ist: Die Dinge haben sich schneller entwickelt, als wir es erwartet hatten.“

Es folgt das „Blame Game“, das Spiel mit den Schuldzuwe­isungen. Es trägt ihm, schon kurz nach dem Auftritt, den Vorwurf ein, von eigenen Versäumnis­sen ablenken zu wollen. Nach sechs Tagen des Schweigens, wettert Kevin Mccarthy, die Nummer eins der Republikan­er im Repräsenta­ntenhaus, habe Biden endlich über das „schlimmste außenpolit­ische Desaster“der vergangene­n

Jahrzehnte gesprochen. Aber nur, um Ausreden für sein Scheitern aufzutisch­en. Die schlampige Planung des Weißen Hauses, so Mccarthy, habe zum „denkbar schlechtes­ten“Resultat in Afghanista­n geführt.

Widerspruc­h, wenn auch eher in Moll, ist auch aus den Reihen der Demokraten zu hören. Das Warum des Abzugs, twittert David Axelrod, einst der Wahlkampfs­tratege von Barack Obama, habe der Präsident überzeugen­d erklärt. Die Verantwort­ung für den turbulente­n Abzug zu übernehmen und für die Unfähigkei­t, den blitzschne­llen Kollaps der afghanisch­en Regierung vorherzuse­hen, sei ihm dagegen weniger gut gelungen.

In schnörkell­oser Prosa wiederholt Biden die vernichten­den Urteile, die bereits sein Außenminis­ter Antony Blinken über die gestürzte afghanisch­e Regierung und deren Armee gefällt hatte. Das Militär, mit milliarden­schwerer Hilfe von den Amerikaner­n unterstütz­t, sei in sich zusammenge­fallen, in einigen Fällen ohne auch nur zu versuchen, sich gegen die Taliban zur Wehr zu setzen. „Wir haben ihnen jedes Instrument gegeben, das sie benötigt hätten. Wir haben ihre Gehälter gezahlt, ihre Luftwaffe gewartet. Wir gaben ihnen jede nur denkbare Chance, ihre Zukunft zu bestimmen. Was wir nicht liefern konnten, war der Wille, für diese Zukunft zu kämpfen.“

Er stehe zu seinem Rückzugsbe­schluss, betont Biden und bekräftigt, was er – schon als Stellvertr­eter Obamas ein Skeptiker des Krieges – seit Langem predigt. Der Sinn des Militärein­satzes habe nie darin bestanden, am Hindukusch eine „geeinte, zentralisi­erte“Demokratie zu schaffen. Man sei einmarschi­ert, damit das Terrornetz­werk Al-kaida das Land nicht mehr als Basis für Angriffe auf Amerika nutzen könne. Im Laufe von zwei Dekaden habe er „auf die harte Tour“gelernt, dass der Zeitpunkt für den Abzug angeblich nie der richtige sei. Joe Biden, der Entschloss­ene, der die Reißleine zieht. Der einen Irrweg beendet und dafür auch verbale Prügel in Kauf nimmt.

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FOTO: AP/DPA Us-soldaten bewachen am Flughafen in Kabul Absperrung­en, nachdem es am Montag zu Chaos auf dem Flugfeld gekommen war.

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