Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Auf die harte Tour
Us-präsident Joe Biden verteidigt den Abzug aus Afghanistan. Er gesteht keine Fehler ein und nimmt dafür verbale Prügel in Kauf.
WASHINGTONMAN kennt das Stilmittel aus etlichen Fernsehansprachen, die Joe Biden gehalten hat. Will er einer Passage besonderen Nachdruck verleihen, beugt er sich leicht nach vorn übers Pult und schaut sehr konzentriert in die Kamera, als könnte er jeden Zuschauer einzeln ansprechen. Im East Room des Weißen Hauses bedient er sich der Mimik, um eine Kernaussage zu unterstreichen. „An diejenigen, die argumentieren, dass wir bleiben sollten“, sagt er und schickt drei rhetorische Fragen hinterher. „Wie viele Generationen von Amerikas Töchtern und Söhnen wollen Sie mich noch losschicken lassen, um in Afghanistan in einem Bürgerkrieg zu kämpfen, wenn die afghanischen Soldaten dazu nicht bereit sind?“Wie viele amerikanische Leben sei das wert? Wie viele Gräberreihen auf dem Nationalfriedhof von Arlington?
Zu erleben ist ein Joe Biden, der selbstgewiss wirkt, in den Augen seiner Kritiker geradezu stur, jedenfalls nicht gewillt, über ein absolutes Minimum hinaus Fehler einzugestehen. Etwa eine zu optimistische Einschätzung der Lage, die sicher beitrug zum Rückzugschaos, zu den erschütternden Szenen am Flughafen von Kabul. Es sei höchst unwahrscheinlich, dass die Taliban alles überrennen und das ganze Land erobern, hatte der Us-präsident noch vor sechs Wochen orakelt. Nun geht er mit keiner Silbe auf die eigenen Irrtümer ein. Zwar spricht er von herzzerreißenden Bildern, die die Welt aus Kabul erreichten. Der Abzug, räumt er ein, verlaufe chaotisch. Doch während Politiker anderswo von nicht zu beschönigenden Fehlurteilen sprechen, verteidigt er sich und seine Berater. „Wir hatten die Risiken klar im Auge. Wir waren auf jede Eventualität vorbereitet. Die Wahrheit ist: Die Dinge haben sich schneller entwickelt, als wir es erwartet hatten.“
Es folgt das „Blame Game“, das Spiel mit den Schuldzuweisungen. Es trägt ihm, schon kurz nach dem Auftritt, den Vorwurf ein, von eigenen Versäumnissen ablenken zu wollen. Nach sechs Tagen des Schweigens, wettert Kevin Mccarthy, die Nummer eins der Republikaner im Repräsentantenhaus, habe Biden endlich über das „schlimmste außenpolitische Desaster“der vergangenen
Jahrzehnte gesprochen. Aber nur, um Ausreden für sein Scheitern aufzutischen. Die schlampige Planung des Weißen Hauses, so Mccarthy, habe zum „denkbar schlechtesten“Resultat in Afghanistan geführt.
Widerspruch, wenn auch eher in Moll, ist auch aus den Reihen der Demokraten zu hören. Das Warum des Abzugs, twittert David Axelrod, einst der Wahlkampfstratege von Barack Obama, habe der Präsident überzeugend erklärt. Die Verantwortung für den turbulenten Abzug zu übernehmen und für die Unfähigkeit, den blitzschnellen Kollaps der afghanischen Regierung vorherzusehen, sei ihm dagegen weniger gut gelungen.
In schnörkelloser Prosa wiederholt Biden die vernichtenden Urteile, die bereits sein Außenminister Antony Blinken über die gestürzte afghanische Regierung und deren Armee gefällt hatte. Das Militär, mit milliardenschwerer Hilfe von den Amerikanern unterstützt, sei in sich zusammengefallen, in einigen Fällen ohne auch nur zu versuchen, sich gegen die Taliban zur Wehr zu setzen. „Wir haben ihnen jedes Instrument gegeben, das sie benötigt hätten. Wir haben ihre Gehälter gezahlt, ihre Luftwaffe gewartet. Wir gaben ihnen jede nur denkbare Chance, ihre Zukunft zu bestimmen. Was wir nicht liefern konnten, war der Wille, für diese Zukunft zu kämpfen.“
Er stehe zu seinem Rückzugsbeschluss, betont Biden und bekräftigt, was er – schon als Stellvertreter Obamas ein Skeptiker des Krieges – seit Langem predigt. Der Sinn des Militäreinsatzes habe nie darin bestanden, am Hindukusch eine „geeinte, zentralisierte“Demokratie zu schaffen. Man sei einmarschiert, damit das Terrornetzwerk Al-kaida das Land nicht mehr als Basis für Angriffe auf Amerika nutzen könne. Im Laufe von zwei Dekaden habe er „auf die harte Tour“gelernt, dass der Zeitpunkt für den Abzug angeblich nie der richtige sei. Joe Biden, der Entschlossene, der die Reißleine zieht. Der einen Irrweg beendet und dafür auch verbale Prügel in Kauf nimmt.