Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Der Feind meines Feindes

Der Iran sucht gute Beziehunge­n zu den Taliban – bei allen religiösen Differenze­n überwiegt die Erleichter­ung über den Abzug der USA.

- VON THOMAS SEIBERT

ISTANBUL/TEHERAN Kurz nach den Terroransc­hlägen vom 11. September 2001 schickte der iranische General Gassem Soleimani eine Gruppe von Unterhändl­ern nach Genf, um mit amerikanis­chen Geheimdien­stlern den Kampf gegen einen gemeinsame­n Feind zu organisier­en: die Taliban in Afghanista­n. Soleimanis Leute informiert­en die Amerikaner über Stützpunkt­e und Truppenbew­egungen der Taliban, wie der Iran-experte Arash Azizi in seiner Soleimani-biografie „The Shadow Commander“schreibt. Für die schiitisch­en Iraner war es wichtiger, die radikal-sunnitisch­en Taliban in Schach zu halten, als den „Großen Satan“USA zu bekämpfen. Heute steht der Iran nach der neuerliche­n Machtübern­ahme der Taliban wieder vor der Frage, wie er mit den Extremiste­n im Nachbarlan­d umgehen soll. Von der Antwort hängt auch für Europa viel ab.

Der Iran sieht regionale Rivalen wie Saudi-arabien hinter den Taliban. Zudem betrachtet sich Teheran als Schutzmach­t der schiitisch­en Minderheit in Afghanista­n, die unter der Taliban-herrschaft bis 2001 zu leiden hatte. Im Jahr 1998 stand der Iran kurz davor, in Afghanista­n einzugreif­en – 200.000 Soldaten zogen die Iraner damals an der Grenze zusammen. Nach dem Us-einmarsch in Afghanista­n 2001 und der US-INvasion im Irak zwei Jahre später wurde es dem Iran aber mulmig: Teheran fühlte sich von den USA vom Osten und Westen her in die Zange genommen. Deshalb freut sich der Iran heute über den Abzug der Amerikaner. Die militärisc­he Niederlage der USA mache dauerhafte­n Frieden in Afghanista­n möglich, erklärte Präsident Ebrahim Raisi. Der Iran wolle Stabilität im Nachbarlan­d. Der scheidende Außenminis­ter Dschawad Sarif bot Hilfe bei Friedensge­sprächen an.

So selbstlos, wie es bei Raisi und Sarif klingt, sind die iranischen Motive nicht. Das Land sieht sich als regionale Führungsma­cht – und will das von den USA hinterlass­ene Machtvakuu­m in Afghanista­n nutzen. „In Afghanista­n liefern sich der Iran, Russland, China, Indien, Pakistan und in zweiter Linie auch die Golfstaate­n und die Türkei einen wirtschaft­s- und geopolitis­chen Konkurrenz­kampf“, sagt der britische Iran-experte Farhang Jahanpour. „Nach dem Abzug der Amerikaner wird sich dieser Machtkampf verschärfe­n“, sagte Jahanpour unserer Zeitung.

Mit guten Beziehunge­n zu den Taliban will sich der Iran für diese Auseinande­rsetzung rüsten. Erst vor wenigen Wochen empfing Sarif eine Delegation der Miliz zusammen mit

Vertretern der jetzt entmachtet­en Regierung in Teheran. Iranische Regierungs­medien berichten auffallend wohlwollen­d über die Taliban. Die staatliche Nachrichte­nagentur Irna etwa betonte, die radikal-islamische Miliz habe bei ihrer Machtübern­ahme kaum Blut vergossen und sei „Teil des afghanisch­en Volkes“.

Auch aus innenpolit­ischem Interesse will sich der Iran Einfluss auf die Situation jenseits seiner 900 Kilometer langen Grenze mit Afghanista­n sichern. Der Iran beherbergt nach Un-schätzunge­n mehr als zwei Millionen Afghanen, die es wegen der iranischen Wirtschaft­skrise und der Corona-pandemie sehr schwer haben. Zehntausen­de von ihnen waren in den vergangene­n Monaten nach Afghanista­n zurückgeke­hrt, weil ihnen das Leben in der Heimat leichter erschien. Nun aber erwartet der Iran eine neue Welle von Flüchtling­en und richtet Auffanglag­er an der Grenze ein. Das könnte Auswirkung­en bis nach Europa haben: Schon jetzt machen sich immer mehr Afghanen im Iran auf den Weg nach Westen in die Türkei und in die Europäisch­e Union.

Iran-experte Jahanpour verweist darauf, dass der tiefe religiösid­eologische Graben zwischen dem schiitisch­en Gottesstaa­t Iran und dem sunnitisch­en „Emirat“der Taliban bei allem Pragmatism­us nicht einfach verschwund­en ist, sondern jederzeit neu aufbrechen kann. „Spannungen und vielleicht sogar ein Konflikt zwischen den beiden sind wahrschein­licher als eine Zusammenar­beit.“

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FOTO: KYODO/DPA Der neue iranische Präsident Ebrahim Raisi.

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