Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Der Feind meines Feindes
Der Iran sucht gute Beziehungen zu den Taliban – bei allen religiösen Differenzen überwiegt die Erleichterung über den Abzug der USA.
ISTANBUL/TEHERAN Kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 schickte der iranische General Gassem Soleimani eine Gruppe von Unterhändlern nach Genf, um mit amerikanischen Geheimdienstlern den Kampf gegen einen gemeinsamen Feind zu organisieren: die Taliban in Afghanistan. Soleimanis Leute informierten die Amerikaner über Stützpunkte und Truppenbewegungen der Taliban, wie der Iran-experte Arash Azizi in seiner Soleimani-biografie „The Shadow Commander“schreibt. Für die schiitischen Iraner war es wichtiger, die radikal-sunnitischen Taliban in Schach zu halten, als den „Großen Satan“USA zu bekämpfen. Heute steht der Iran nach der neuerlichen Machtübernahme der Taliban wieder vor der Frage, wie er mit den Extremisten im Nachbarland umgehen soll. Von der Antwort hängt auch für Europa viel ab.
Der Iran sieht regionale Rivalen wie Saudi-arabien hinter den Taliban. Zudem betrachtet sich Teheran als Schutzmacht der schiitischen Minderheit in Afghanistan, die unter der Taliban-herrschaft bis 2001 zu leiden hatte. Im Jahr 1998 stand der Iran kurz davor, in Afghanistan einzugreifen – 200.000 Soldaten zogen die Iraner damals an der Grenze zusammen. Nach dem Us-einmarsch in Afghanistan 2001 und der US-INvasion im Irak zwei Jahre später wurde es dem Iran aber mulmig: Teheran fühlte sich von den USA vom Osten und Westen her in die Zange genommen. Deshalb freut sich der Iran heute über den Abzug der Amerikaner. Die militärische Niederlage der USA mache dauerhaften Frieden in Afghanistan möglich, erklärte Präsident Ebrahim Raisi. Der Iran wolle Stabilität im Nachbarland. Der scheidende Außenminister Dschawad Sarif bot Hilfe bei Friedensgesprächen an.
So selbstlos, wie es bei Raisi und Sarif klingt, sind die iranischen Motive nicht. Das Land sieht sich als regionale Führungsmacht – und will das von den USA hinterlassene Machtvakuum in Afghanistan nutzen. „In Afghanistan liefern sich der Iran, Russland, China, Indien, Pakistan und in zweiter Linie auch die Golfstaaten und die Türkei einen wirtschafts- und geopolitischen Konkurrenzkampf“, sagt der britische Iran-experte Farhang Jahanpour. „Nach dem Abzug der Amerikaner wird sich dieser Machtkampf verschärfen“, sagte Jahanpour unserer Zeitung.
Mit guten Beziehungen zu den Taliban will sich der Iran für diese Auseinandersetzung rüsten. Erst vor wenigen Wochen empfing Sarif eine Delegation der Miliz zusammen mit
Vertretern der jetzt entmachteten Regierung in Teheran. Iranische Regierungsmedien berichten auffallend wohlwollend über die Taliban. Die staatliche Nachrichtenagentur Irna etwa betonte, die radikal-islamische Miliz habe bei ihrer Machtübernahme kaum Blut vergossen und sei „Teil des afghanischen Volkes“.
Auch aus innenpolitischem Interesse will sich der Iran Einfluss auf die Situation jenseits seiner 900 Kilometer langen Grenze mit Afghanistan sichern. Der Iran beherbergt nach Un-schätzungen mehr als zwei Millionen Afghanen, die es wegen der iranischen Wirtschaftskrise und der Corona-pandemie sehr schwer haben. Zehntausende von ihnen waren in den vergangenen Monaten nach Afghanistan zurückgekehrt, weil ihnen das Leben in der Heimat leichter erschien. Nun aber erwartet der Iran eine neue Welle von Flüchtlingen und richtet Auffanglager an der Grenze ein. Das könnte Auswirkungen bis nach Europa haben: Schon jetzt machen sich immer mehr Afghanen im Iran auf den Weg nach Westen in die Türkei und in die Europäische Union.
Iran-experte Jahanpour verweist darauf, dass der tiefe religiösideologische Graben zwischen dem schiitischen Gottesstaat Iran und dem sunnitischen „Emirat“der Taliban bei allem Pragmatismus nicht einfach verschwunden ist, sondern jederzeit neu aufbrechen kann. „Spannungen und vielleicht sogar ein Konflikt zwischen den beiden sind wahrscheinlicher als eine Zusammenarbeit.“