Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Ein Krebsmedikament als Lebensretter
Eine Studie von Uniklinik Marburg und Klinikum Kassel zeigt, dass Ruxolitinib bei schweren Covid-19-verläufen helfen könnte.
DÜSSELDORF Im Fall von schweren Covid-19-verläufen ist die Intensivmedizin momentan entspannter als noch vor Monaten, weil die Impfstoffe gegen die aktuell zirkulierenden Mutanten insgesamt sicher wirken. Trotzdem gibt es derzeit in Deutschland knapp 500 Patienten, bei denen die Ärzte den Trick- und Folgenreichreichtum des Virus therapeutisch nur schwer zähmen können. Maschinelle Beatmung hilft relativ oft eben auch nicht.
Bislang gibt es das eine und alles überragende Wundermedikament gegen Covid-19 noch nicht. Vielmehr arbeiten die Intensivmediziner mit einem Cocktail aus Wirkstoffen. Einer der bekanntesten und beinahe schon bewährtesten ist Dexamethason, ein Cortison-präparat. Das antivirale Medikament Remdesivir dagegen ist möglicherweise doch nicht so effektiv. Eine Cochrane-meta-analyse sagt: „Auf Grundlage von randomisierten kontrollierten Studien kommen wir zu dem Schluss, dass eine Behandlung mit Remdesivir wahrscheinlich nur geringe oder gar keine Auswirkungen auf die Sterblichkeit bei Patienten mit Covid-19 hat.“
Trotzdem wird unermüdlich weiter geforscht. Weit mehr als 100 Studien laufen derzeit mit den verschiedensten Medikamententypen. Und immer mal wieder gibt es positive Zwischenberichte. Einer kommt jetzt aus Marburg – und er klingt wirklich gut. Dort hatten Ärzte bereits 2020 das Krebsmedikament Ruxolitinib erfolgreich zur Heilung einer Patientin eingesetzt; sie litt nach einer Infektion mit SarsCov-2 an akutem Lungenversagen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte genehmigte danach eine Studie, in der die Forscher Ruxolitinib prüfen wollten.
Was war der Ansatz? „Aus chinesischen Publikationen wussten wir, dass die Patienten mit einem schweren und sogar tödlichen Verlauf durch einen sogenannten Zytokinsturm charakterisiert sind“, sagt der Marburger Krebsspezialist Andreas Neubauer, der die Studie in „Nature“veröffentlicht hat. „Dabei handelt es sich um eine Überschwemmung des Körpers mit Substanzen, die das Immunsystem stimulieren.“Diese Überreaktion der körpereigenen Abwehr schädigt das Gewebe – umso leichter verbreitet sich das Virus. Neubauer vermutete, dass auch andere Betroffene auf Ruxolitinib ansprechen könnten, das aus der Krebstherapie stammt: Es hemmt Enzyme im Körper, die an überschießenden Entzündungsreaktionen beteiligt sind.
Das Team aus Marburg und vom Klinikum Kassel schloss in seine Studie 16 künstlich beatmete Covid-19-patienten zwischen 35 und 92 Jahren ein, die allermeisten waren Männer. Sie erhielten das Medikament über eine Dauer von vier bis 28 Tagen, zusätzlich zur Standardbehandlung etwa mit Dexamethason.
„Im Vergleich mit anderen publizierten Behandlungen schneidet die zusätzliche Ruxolitinib-verabreichung gut ab“, erklärt Koautorin Caroline Rolfes vom Klinikum Kassel. 13 der 16 Betroffenen waren nach 28 Tagen noch am Leben, das entspricht einer Überlebensrate von 81 Prozent. In früheren Studien lag die Überlebensrate am 28. Tag zwischen 25 und 60 Prozent.
Noch eine weitere Beobachtung des Teams: Diejenigen Patienten, die bis zum Ende künstlich beatmet werden mussten, waren bereits vor Studienbeginn mehr als einen Tag lang auf eine Beatmungsmaschine angewiesen, bevor sie das Medikament erhielten. Das bedeutet: Je früher die Behandlung mit Ruxolitinib startete, umso besser war es für die Patienten.
Unterdessen will die Europäische Arzneimittelbehörde das Arthritismedikament Actemra (mit dem Wirkstoff Tocilizumab) bei Covid-19-patienten prüfen. Mit der entzündungshemmenden Arznei sollen Erkrankte behandelt werden, die bereits Cortison bekommen und Sauerstoff oder eine künstliche Beatmung benötigen. Das Ergebnis soll im Oktober vorliegen.