Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Die ungeliebte Schuldenbremse
ANALYSE Die strikten Regeln im Grundgesetz, was neue Kredite angeht, wären viele lieber heute als morgen los. Dabei verschuldet sich der Bund dieses Jahr schon in historischer Höhe. Der alte, strikte Konsens zerbricht.
Robert Habeck will es, Olaf Scholz und vor allem Markus Söder wollen es auch: die Schuldenbremse dauerhaft aussetzen oder so reformieren, dass in den kommenden Jahren erheblich mehr neue öffentliche Schulden möglich werden. Doch wie nachhaltig ist das angesichts einer halben Billion Euro an zusätzlichen Schulden, die Bund und Länder seit dem Ausbruch der Corona-krise Anfang 2020 aufgetürmt haben? Hinzu kommen nun weitere bis zu 30 Milliarden Euro für den Wiederaufbaufonds nach der Flutkatastrophe.
Die Bundesbank bezifferte den Schuldenberg der öffentlichen Hand im März auf 2,33 Billionen Euro, nach 2021 dürfte die Summe auf bis zu 2,8 Billionen Euro klettern. Das ist in einer starken Volkswirtschaft keine Last, die nicht mehr zu tragen wäre, zumal die Zinsen seit vielen Jahren niedrig sind und voraussichtlich auch in künftigen Jahren historische Tiefstände erreichen werden. Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse, also das weitgehende Verbot, neue Kredite aufzunehmen, hat vor allem einen Sinn: Sie soll Politiker in Bund und Ländern disziplinieren. Sie sollen das Geld der Steuerzahler nicht hemmungslos verschleudern, sondern es in zukunftsfördernde Projekte stecken, die helfen, den sozialen Frieden, den Wohlstand und die Lebensgrundlagen zu sichern.
Darüber bestand 2011, als die Schuldenbremse eingeführt wurde, ein Konsens in Deutschland. Doch dieser Konsens scheint unter Politikern aufzubrechen. Alle Parteien haben ambitionierte Ziele für die Zeit nach der Bundestagswahl: Union und FDP wollen die Steuerlast senken, die CSU will die Mütterrenten nochmals erhöhen, SPD, Grüne und Linke wollen die Sozialleistungen ausweiten, und alle zusammen wollen Klimaschutz und Digitalisierung beschleunigen – die
Rückkehr zur Schuldenbremse passt da nicht in die Landschaft.
Hinzu kommen jetzt auch noch die Folgen der Flutkatastrophe im Westen Deutschlands: Bis zu 30 Milliarden Euro wollen Bund und Länder den Fonds zur Wiederaufbauhilfe ausstatten, der bis 17. September von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden soll. 16 Milliarden Euro wird der Bund aus seinem Haushalt direkt in den Fonds einstellen. Für diese außerplanmäßige Ausgabe, die mutmaßlich höchste in der Geschichte der Bundesrepublik, sei kein Nachtragsetat nötig, heißt es aus dem Finanzministerium: Der Kreditrahmen, den der Bundestag für das laufende Jahr bereits genehmigt habe, sei mit rund 240 Milliarden Euro groß genug, um auch die Wiederaufbauhilfe zu finanzieren. Aus dem Fonds sollen private Haushalte, Unternehmen und Institutionen, die von der Flut betroffen sind, bis zu 80 Prozent ihrer Schäden ersetzt bekommen, die restlichen 20 Prozent sollen Versicherungen tragen. In Härtefällen sollen bis zu 100 Prozent der Schäden ausgeglichen werden können.
Die Wiederaufbauhilfe ist damit ohne Weiteres finanzierbar, da der Bundesregierung derzeit fast keine Grenzen bei der Neuverschuldung gesetzt sind. Auch 2022 wird die neue Bundesregierung noch aus dem Vollen schöpfen können: Es ist bereits entschieden, dass die Schuldenbremse auch im dritten Corona-jahr erneut ausgesetzt werden soll. Erst 2023 kommt es wieder zum Schwur: Die Neuverschuldung müsste dann eigentlich wieder auf höchstens 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder rund zehn Milliarden Euro begrenzt werden. So schreibt es das Grundgesetz vor. Eine neue Bundesregierung, die diese Regel nicht einhalten möchte, müsste also zunächst im Koalitionsvertrag, dann mit anderen Parteien im Bundestag und schließlich mit den Ländern eine Reform aushandeln, um die nötigen Zweidrittelmehrheiten zu erreichen.
Dass es so kommen wird, ist angesichts der Herausforderungen beim Klimaschutz, im Gesundheitssystem nach der Corona-krise, im Rentensystem wegen der demografischen Entwicklung und wegen des generell hohen Investitionsbedarfs nicht unwahrscheinlich. Selbst die Bundesbank, über viele Jahre Verfechterin der Schuldenbremse, zeigt sich mittlerweile geschmeidiger. Sie würde die Einführung einer Nettoinvestitionsregel und eine kluge Neudefinition des Investitionsbegriffs wohl mittragen: Nur Ausgaben für solche Sachinvestitionen, die den Kapitalstock der Volkswirtschaft netto erhöhen und das Wachstum langfristig steigern, könnten demnach mit neuen Schulden finanziert werden – der Verschuldungsspielraum würde entsprechend größer als bei der strikten Beibehaltung der Schuldenbremse.
Noch hält sich die CDU zurück, wenn es um die Reform der Schuldenbremse geht, die die Grünen, ein potenzieller Koalitionspartner nach der Wahl, vehement fordern. Einer allerdings widerspricht: „Wegen der Wiederaufbauhilfe müssen wir jetzt nicht die Einhaltung der Schuldenbremse ab 2023 infrage stellen. Auch die Fluthilfe 2013 hat sich über Jahre hingezogen, und die Länder tragen die Hälfte zum Wiederaufbaufonds bei“, sagt Unions-chefhaushälter Eckhardt Rehberg. Und: „Wir haben doch kein Finanzierungsproblem, sondern ein Umsetzungsproblem, wenn es um mehr Investitionen in Klimaschutz, Digitalisierung oder Bildung geht. Geld ist genug da, die Planungsprozesse für Investitionen müssen nur endlich beschleunigt werden.“
Doch Rehberg, der ohnehin nicht wieder antritt, befindet sich in der Union in der Defensive. CDU-CHEF und Kanzlerkandidat Armin Laschet dürfte der Einhaltung der Schuldenbremse bei Koalitionsverhandlungen, so die Einschätzung in Berliner Parlamentskreisen, nicht die allerhöchste Priorität einräumen, zumal ihm der bayerische Ministerpräsident im Nacken sitzt.
„Wir haben doch kein Finanzierungsproblem, sondern ein Umsetzungsproblem“Eckhardt Rehberg Chefhaushälter der Union