Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
RHEINISCHE LÖSUNG Es ist zum Jammern
Das Brauchtum fällt mager aus. Was das mit der Seele (und der Sprache) macht.
Wer die Stimmungslage beschreiben will, die derzeit die Freunde von Kirmes, König, Schützenfest bewegt, kann auf eine typisch rheinische Formulierung zurückgreifen: „Die hant et ärme Tier.“Heißt konkret: Selbst die Muntermacher haben den Moralischen, fühlen sich wie „ne ärme Honk“, also ein vernachlässigter Hund. Ihnen fehlt, was Freude macht. Das große Feiern – das in Neuss Ende August ansonsten weit über 7000 Schützen und Hunderttausende Besucher zusammenbringt – fällt wegen Corona nun schon zum zweiten Male aus. Da leiden auch andernorts die Darsteller des Brauchtums, denen die Bühne genommen ist, auf der sie sich einem begeisterten Publikum präsentieren können.
Die Rheinländer sind immer gern bereit, in eine fremde Rolle zu schlüpfen. Das ist für manche eine ernste Sache, für die meisten aber vor allem eins: Spaß an der Freud. Denn wenn das Trömmelche jeht (ein Lied, komponiert von zwei Neusser Schützen für den Karneval), stehen im Rheinland alle parat. Die Musik aber hat diesen Sommer Ruh. Darunter leidet („et ärme Tier“), wer gewohnt ist, das große Wort zu führen, zackig zu paradieren oder würdevoll zu grüßen. Damit entfällt erneut der rheinische Karrieresprung, der aus normalen Menschen Majestäten macht, die im heimischen Umfeld hofiert und gefeiert werden, als wären sie die Queen. Wer jetzt das Brauchtum auf die Selbstdarstellung reduziert, vergisst die starke soziale Wirkung, die zu einer Anerkennung als Unesco-kulturerbe geführt hat und in Zeiten der Krise (Pandemie wie Hochwasser) durch engagierte Schützenhilfe für Menschen in Not belegt ist. Die feierfreudigen Brauchtumsfreunde packen auch an. Die festlose Zeit heißt es kreativ zu überbrücken. Mancherorts wird zumindest die Rollmopsallee der Schausteller aufgebaut. „Vörr ärme Ussel“– auch so eine wunderbare Formulierung, die eine echte Notlösung beschreibt – sollen sich in Mönchengladbach bei einem Biergartenkonzert die Schützenmajestäten wie auf dem Laufsteg zeigen können. Na dann, prost. Oder: Hurra, die nächste Runde geht auf den König.
Unser Autor ist stellvertretender Chefredakteur. Er wechselt sich hier mit Politikredakteurin Dorothee Krings ab.