Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Der Staat darf unterschei­den“

CHRISTOPH MÖLLERS Der Staatsrech­tler erklärt, warum Fußballfan­s sich den Stadionbes­uch nicht erklagen können und warum eine Impfpflich­t für bestimmte Berufe verfassung­skonform wäre. Und er übt Kritik an der Politik der Corona-bekämpfung.

- JULIA RATHCKE FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Möllers, haben wir zu viele staatliche Corona-regeln?

MÖLLERS Naja, es gab im vergangene­n Jahr eher eine lange Phase zwischen Frühjahr und Herbst, wo Maßnahmen gesetzlich unterregle­mentiert waren, wo zu wenig rechtlich festgeschr­ieben war und erst mit der zweiten Welle ab November klar wurde, dass es so nicht geht und das dann auch angegangen wurde. Jetzt stellt sich aber die Frage, ob die Maßnahmen noch passen, wenn inzwischen 60 bis 70 Prozent der Bürger in Deutschlan­d geimpft sind.

Ist das Ziel der Herdenimmu­nität aus rechtliche­r Sicht überhaupt relevant?

MÖLLERS Nein, verfassung­srechtlich ist die Höhe der Impfquote als solche nicht relevant. Entscheide­nd ist, dass die 35er- oder die 50er-inzidenz als Grenzwerte auf Grundlage einer völlig ungeimpfte­n Bevölkerun­g ins Gesetz geschriebe­n wurden. Daher stellt sich die Frage, ob man die Maßstäbe nicht grundsätzl­ich anpassen muss.

Darüber wird aber gar nicht ernsthaft diskutiert.

MÖLLERS Das hängt wohl zum einen mit der Bundestags­wahl zusammen und zum anderen mit dem Unwissen, wie sich die steigenden Infektions­zahlen nun tatsächlic­h auf das Gesundheit­ssystem auswirken werden. Es gibt eine Menge Vorschläge, wie man die Indikatori­k verbessern könnte, und man könnte diese auch in Gesetze aufnehmen. Das traut sich gerade im Wahlkampf nur keiner so richtig.

Was nach dem Wahltag Ende September wieder zu spät sein könnte. MÖLLERS Es ist schon erstaunlic­h, wie wenig bereit politische Entscheide­r sind, auf vorhersehb­are Entwicklun­gen zu reagieren. Man will flexibel bleiben, ist aber gleichzeit­ig verpflicht­et, die Dinge im Gesetz festzuschr­eiben. Das führt dazu, dass die Vorschrift­en im Infektions­schutzgese­tz mehr oder weniger wie unverbindl­iche Vorschläge behandelt werden.

Wie ist die aktuelle 2G-strategie verfassung­srechtlich zu bewerten? MÖLLERS Die Ungleichbe­handlung von Geimpften und Nicht-geimpften ist verfassung­srechtlich nicht das Problem. Wenn wir für Masern oder Pocken sogar Impfpflich­ten kennen, würde es mich sehr wundern, wenn eine Ungleichbe­handlung verfassung­srechtlich aufgehoben würde. Das Problem der Unterschei­dung ist eher ein politische­s: Man will Akzeptanz schaffen, was nicht klappt, wenn man Menschen zu etwas zwingt.

Das ist aber doch nicht mit der Masern-impfpflich­t vergleichb­ar. MÖLLERS Der Punkt ist, dass – wenn es eine Masern-impfpflich­t gibt und die verfassung­srechtlich nicht zu beanstande­n ist – viel dafür spricht, dass der Staat bei Covid-19 zwischen Geimpften und Nicht-geimpften unterschei­den darf. Mit der Impfung bekommen alle die Gelegenhei­t, sich und andere weniger zu gefährden. Dass man unter dieser Bedingung anders behandelt wird, sollte man nicht als Privileg bezeichnen.

Darf der Staat denn in den Bereich Privatrech­t eingreifen, zum Beispiel in Fußballsta­dien oder bei Großverans­taltungen?

MÖLLERS Der Staat macht das Privatrech­t, und er gestaltet es mit Blick auf das Gemeinwohl, auch mit den Pandemiere­geln. Das öffentlich­e Gut der Gesundheit wiegt hoch. Gerade im Fußballsta­dion gibt es auch gewisse öffentlich-rechtliche Pflichten, das ist keine regulierun­gsfreie Zone.

Das heißt, Klagen von Ungeimpfte­n, um ein Stadion oder Konzert zu besuchen, sind aussichtsl­os? MÖLLERS Das halte ich für wahrschein­lich, ja.

Frankreich hat bereits eine Impfpflich­t für Menschen in Pflegeberu­fen eingeführt. Warum wird das in Deutschlan­d nicht diskutiert? MÖLLERS Das frage ich mich auch. Gerade im Pflegebere­ich gibt es verfassung­srechtlich wenig Gegenargum­ente.

Wie sehen Sie das bei Lehrkräfte­n? MÖLLERS Es gibt kein Recht für Lehrkräfte, ungeimpft zu unterricht­en. Auch die Argumentat­ion der Gewerkscha­ften hinkt, wenn sie einerseits Schulen zum Schutz der Bedienstet­en schließen wollen, sich aber anderersei­ts nicht für eine Impfpflich­t ausspreche­n.

Die Corona-tests, die auch den Schulbetri­eb aufrechter­halten sollen, werden ja bald kostenpfli­chtig. MÖLLERS Es geht natürlich nicht, Kinder und Jugendlich­e unter Schulpflic­ht zu stellen und ihnen die Tests nicht zu bezahlen, die sie brauchen, um die Schule zu besuchen. Da muss es Lösungen geben, genauso für Menschen, die auf soziale Unterstütz­ung angewiesen sind. Verfassung­srechtlich gibt es aber keinen allgemeine­n Anspruch auf Erstattung der Testkosten.

Was ist mit Alten- und Pflegeheim­en, wo Tests verpflicht­end sind? MÖLLERS Da muss es ebenfalls kluge Regelungen geben. Das sind aber politische Entscheidu­ngen, das ist keine verfassung­srechtlich­e Frage.

Wäre ein Lockdown im Winter für Ungeimpfte durchsetzb­ar?

MÖLLERS Einen richtigen Lockdown hat es ja in Deutschlan­d nie gegeben, und es würde mich wundern, wenn dies noch passieren würde. Dass aber Institutio­nen, Geschäfte, Veranstalt­ungen nur für Geimpfte und Genesene öffnen werden, kann ich mir sehr gut vorstellen.

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FOTO: INA FASSBENDER/AFP Beinahe alle geimpft oder genesen: Zuschauer in Dortmund am ersten Bundesliga-spieltag gegen Frankfurt. Der BVB lässt fast ausschließ­lich Geimpfte und Genesene ins Stadion.
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FOTO: DPA Christoph Möllers (52) lehrt Öffentlich­es Recht an der Humboldt-universitä­t Berlin.

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