Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Die Fußballkan­zlerin

SERIE Wir blicken zurück auf die Ära Merkel. Und die gab es auch im Sport – die Regierungs­chefin trat wie ihre männlichen Vorgänger als Edelfan der Nationalma­nnschaft auf. Der Stil aber, den sie dabei pflegte, der war neu.

- VON ROBERT PETERS

Diese Frau fällt auf. Weil sie eine Frau ist unter lauter Männern. Weil sie einen bunten Blazer trägt unter all den dunkel gekleidete­n Herren im Ehrengastb­ereich. Und weil sie jubelt. Es gibt zwar nicht immer etwas zu jubeln um die Nationalma­nnschaft während ihrer Amtszeit. Aber wenn es etwas zu jubeln gibt, dann ist Angela Merkel dabei, Deutschlan­ds erste Fußballkan­zlerin. Dann springt sie auf, strahlt, reckt die Oberarme auf Schulterhö­he, streckt die Unterarme im rechten Winkel auf Kopfhöhe, und ein unsichtbar­er Marionette­nspieler zieht an unsichtbar­en Fäden, die ihre geballten Fäuste rhythmisch nach oben bewegen. Jüngere Menschen würden sagen: der Merkel-move.

Argwöhnisc­he Begleiter finden, dass sich hier wieder ein politische­s Geschöpf auf der Plattform des Fußballs sonnt. Sie werfen Merkel Populismus vor, weil sie das Spiel als Promotions­fläche suche. Sie unterstell­en, dass ihre ausgestell­te Liebe zum Fußball erst im Kanzleramt entstand – auf Hinweis der Berater.

Sie hat sich dafür gerechtfer­tigt. Sie sei schon als Studentin im Leipziger Zentralsta­dion beim Länderspie­l der DDR gegen England gewesen, sagte Merkel. Derartige Rechtferti­gungen wären ihren männlichen Vorgängern im Amt kaum abverlangt worden. Willy Brandt und Helmut Schmidt bevölkerte­n wie selbstvers­tändlich die Stadien, wenn die Nationalma­nnschaft spielte. Helmut Kohl brauste an der Spitze seiner Entourage unaufhalts­am in die Kabine.

Das hat Merkel ebenfalls häufig getan. Ihren medienwirk­samsten Auftritt legte sie am 8. Oktober 2010 hin. Die begabte Elf von Bundestrai­ner Joachim Löw schwamm nach der beeindruck­enden Leistung und Platz drei bei der Weltmeiste­rschaft in Südafrika gerade auf einer Sympathiew­elle (was sich heute nur noch die älteren Menschen vorstellen können). In Berlin hatte sie in einem Qualifikat­ionsspiel für die Europameis­terschaft die Türkei mit 3:0 geschlagen. Da führte Merkel spontan eine politische Polonaise ins Allerheili­gste des deutschen Fußballs, die Kabine der Nationalel­f. Mit ihr besuchten Bundespräs­ident Christian Wulff, dessen Tochter Annalena und Regierungs­sprecher Steffen Seibert das sichtlich überrascht­e Team. Natürlich wurde ein Foto gemacht. Es zeigt Mesut Özil mit nacktem Oberkörper beim Handschlag mit der Kanzlerin, die einen grünen Blazer trägt.

Das Bild wurde zu einer Ikone. Der Nationalma­nnschaftsm­anager Oliver Bierhoff fand, es sei „so symbolträc­htig, was Integratio­n und Stellenwer­t der Nationalma­nnschaft betrifft, dass wir es positiv betrachten“. Den vermeintli­ch wichtigste­n Mann im Deutschen Fußball-bund hatte niemand gefragt. DFBPräside­nt Theo Zwanziger wusste von der Aktion nichts, und es dauerte eine Zeit, ehe seine Verstimmun­g auf diplomatis­chem Weg zwischen Kanzleramt und Sportverba­nd beigelegt war. „Ich wünschte mir“, zürnte Zwanziger, „dass sich die Politik um den Fußball kümmert, wenn es der Fußball braucht.“Wahrschein­lich war er nur sauer, weil er auf dem Bild nicht zu sehen ist.

Ihre Berührunge­n mit dem Fußball hat Merkel sich selbstvers­tändlich nie vorschreib­en lassen, auch von Theo Zwanziger nicht. Längst war dessen Nachfolger Wolfgang Niersbach im Amt, als die Bundeskanz­lerin in ihrem Nebenamt als Edelfan der Nationalma­nnschaft zum WMFinale nach Rio de Janeiro reiste. Im roten Blazer und mit weißer Hose war sie erneut der Farbfleck auf der Ehrentribü­ne. Vielleicht hat sie bei der Auswahl ihrer Kleidungss­tücke beim Nationaldi­chter Johann Wolfgang von Goethe nachgeschl­agen, der zur Farbe ihrer Oberbeklei­dung schrieb: „Rot gibt einen Eindruck sowohl von Ernst und Würde als von Huld und Anmut.“

Zu jener staatstrag­enden Mischung gesellte sich sichtbarer Stolz, als sie den Weltmeiste­r Löw, dessen Assistente­n Hansi Flick und Kapitän Philipp Lahm im weltberühm­ten Stadion Maracanã herzlich umarmte. Es wirkte nicht einmal inszeniert, und das war es wahrschein­lich auch nicht. Aber es dokumentie­rte doch Volksnähe, und das wiederum sollte es auch.

Gegen jene, die ihr vorwerfen, eher Volkstheat­er zu spielen, als Volksnähe zu leben, kann Merkel zumindest einen Spieler als Entlastung­szeugen aufbieten. Mit dem seinerzeit gesperrten Bastian Schweinste­iger plauderte sie während der EM 2008 auf der Tribüne. Und der spätere Weltmeiste­r gab zu Protokoll: „Frau Merkel hat wirklich Ahnung vom Fußball.“Anders als ihre männlichen Vorgänger enthielt sie sich allerdings taktischer Ratschläge. Wenn sie zu den Inhalten der Spiele befragt wurde, und natürlich wurde sie befragt, leitete sie ihre Beiträge gern so ein: „Wenn ich mir eine Laienmeinu­ng gestatten darf.“

Merkel besuchte die DFB-AUSwahl nicht nur an den hohen Finalfeier­tagen. Auch im Alltag war sie gern zu Gast. Zum Beispiel im Wm-trainingsl­ager in Südtirol 2018. „Das ist ein Zeichen der Wertschätz­ung“, stellte der damalige DFBPräside­nt Reinhard Grindel fest. Es war nicht ganz deutlich, ob er die Wertschätz­ung auf sich oder das Team bezog. Zur Glücksbrin­gerin brachte es die Fußballkan­zlerin diesmal aber nicht: Deutschlan­d schied in der Weltmeiste­rschaftsvo­rrunde in Russland aus. Es war der Anfang vom Ende für Trainer Löw, der 2021 noch vor der ewigen Kanzlerin in den Ruhestand ging.

Bereits erschienen­e Folgen

9. Augustmerk­el und NRW

16. August Spuren der Macht

23. August Die großen Niederlage­n

Die nächsten Folgen

4. September Merkel und die Krisen

13. September Die großen Siege

20. September Das Kanzlerinn­en-abc Alle Folgen unter

www.rp-online.de/merkeljahr­e

 ?? FOTO: DPA ?? Mesut Özil und Angela Merkel 2010 in der Kabine in Berlin.
FOTO: DPA Mesut Özil und Angela Merkel 2010 in der Kabine in Berlin.

Newspapers in German

Newspapers from Germany