Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Die Fußballkanzlerin
SERIE Wir blicken zurück auf die Ära Merkel. Und die gab es auch im Sport – die Regierungschefin trat wie ihre männlichen Vorgänger als Edelfan der Nationalmannschaft auf. Der Stil aber, den sie dabei pflegte, der war neu.
Diese Frau fällt auf. Weil sie eine Frau ist unter lauter Männern. Weil sie einen bunten Blazer trägt unter all den dunkel gekleideten Herren im Ehrengastbereich. Und weil sie jubelt. Es gibt zwar nicht immer etwas zu jubeln um die Nationalmannschaft während ihrer Amtszeit. Aber wenn es etwas zu jubeln gibt, dann ist Angela Merkel dabei, Deutschlands erste Fußballkanzlerin. Dann springt sie auf, strahlt, reckt die Oberarme auf Schulterhöhe, streckt die Unterarme im rechten Winkel auf Kopfhöhe, und ein unsichtbarer Marionettenspieler zieht an unsichtbaren Fäden, die ihre geballten Fäuste rhythmisch nach oben bewegen. Jüngere Menschen würden sagen: der Merkel-move.
Argwöhnische Begleiter finden, dass sich hier wieder ein politisches Geschöpf auf der Plattform des Fußballs sonnt. Sie werfen Merkel Populismus vor, weil sie das Spiel als Promotionsfläche suche. Sie unterstellen, dass ihre ausgestellte Liebe zum Fußball erst im Kanzleramt entstand – auf Hinweis der Berater.
Sie hat sich dafür gerechtfertigt. Sie sei schon als Studentin im Leipziger Zentralstadion beim Länderspiel der DDR gegen England gewesen, sagte Merkel. Derartige Rechtfertigungen wären ihren männlichen Vorgängern im Amt kaum abverlangt worden. Willy Brandt und Helmut Schmidt bevölkerten wie selbstverständlich die Stadien, wenn die Nationalmannschaft spielte. Helmut Kohl brauste an der Spitze seiner Entourage unaufhaltsam in die Kabine.
Das hat Merkel ebenfalls häufig getan. Ihren medienwirksamsten Auftritt legte sie am 8. Oktober 2010 hin. Die begabte Elf von Bundestrainer Joachim Löw schwamm nach der beeindruckenden Leistung und Platz drei bei der Weltmeisterschaft in Südafrika gerade auf einer Sympathiewelle (was sich heute nur noch die älteren Menschen vorstellen können). In Berlin hatte sie in einem Qualifikationsspiel für die Europameisterschaft die Türkei mit 3:0 geschlagen. Da führte Merkel spontan eine politische Polonaise ins Allerheiligste des deutschen Fußballs, die Kabine der Nationalelf. Mit ihr besuchten Bundespräsident Christian Wulff, dessen Tochter Annalena und Regierungssprecher Steffen Seibert das sichtlich überraschte Team. Natürlich wurde ein Foto gemacht. Es zeigt Mesut Özil mit nacktem Oberkörper beim Handschlag mit der Kanzlerin, die einen grünen Blazer trägt.
Das Bild wurde zu einer Ikone. Der Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff fand, es sei „so symbolträchtig, was Integration und Stellenwert der Nationalmannschaft betrifft, dass wir es positiv betrachten“. Den vermeintlich wichtigsten Mann im Deutschen Fußball-bund hatte niemand gefragt. DFBPräsident Theo Zwanziger wusste von der Aktion nichts, und es dauerte eine Zeit, ehe seine Verstimmung auf diplomatischem Weg zwischen Kanzleramt und Sportverband beigelegt war. „Ich wünschte mir“, zürnte Zwanziger, „dass sich die Politik um den Fußball kümmert, wenn es der Fußball braucht.“Wahrscheinlich war er nur sauer, weil er auf dem Bild nicht zu sehen ist.
Ihre Berührungen mit dem Fußball hat Merkel sich selbstverständlich nie vorschreiben lassen, auch von Theo Zwanziger nicht. Längst war dessen Nachfolger Wolfgang Niersbach im Amt, als die Bundeskanzlerin in ihrem Nebenamt als Edelfan der Nationalmannschaft zum WMFinale nach Rio de Janeiro reiste. Im roten Blazer und mit weißer Hose war sie erneut der Farbfleck auf der Ehrentribüne. Vielleicht hat sie bei der Auswahl ihrer Kleidungsstücke beim Nationaldichter Johann Wolfgang von Goethe nachgeschlagen, der zur Farbe ihrer Oberbekleidung schrieb: „Rot gibt einen Eindruck sowohl von Ernst und Würde als von Huld und Anmut.“
Zu jener staatstragenden Mischung gesellte sich sichtbarer Stolz, als sie den Weltmeister Löw, dessen Assistenten Hansi Flick und Kapitän Philipp Lahm im weltberühmten Stadion Maracanã herzlich umarmte. Es wirkte nicht einmal inszeniert, und das war es wahrscheinlich auch nicht. Aber es dokumentierte doch Volksnähe, und das wiederum sollte es auch.
Gegen jene, die ihr vorwerfen, eher Volkstheater zu spielen, als Volksnähe zu leben, kann Merkel zumindest einen Spieler als Entlastungszeugen aufbieten. Mit dem seinerzeit gesperrten Bastian Schweinsteiger plauderte sie während der EM 2008 auf der Tribüne. Und der spätere Weltmeister gab zu Protokoll: „Frau Merkel hat wirklich Ahnung vom Fußball.“Anders als ihre männlichen Vorgänger enthielt sie sich allerdings taktischer Ratschläge. Wenn sie zu den Inhalten der Spiele befragt wurde, und natürlich wurde sie befragt, leitete sie ihre Beiträge gern so ein: „Wenn ich mir eine Laienmeinung gestatten darf.“
Merkel besuchte die DFB-AUSwahl nicht nur an den hohen Finalfeiertagen. Auch im Alltag war sie gern zu Gast. Zum Beispiel im Wm-trainingslager in Südtirol 2018. „Das ist ein Zeichen der Wertschätzung“, stellte der damalige DFBPräsident Reinhard Grindel fest. Es war nicht ganz deutlich, ob er die Wertschätzung auf sich oder das Team bezog. Zur Glücksbringerin brachte es die Fußballkanzlerin diesmal aber nicht: Deutschland schied in der Weltmeisterschaftsvorrunde in Russland aus. Es war der Anfang vom Ende für Trainer Löw, der 2021 noch vor der ewigen Kanzlerin in den Ruhestand ging.
Bereits erschienene Folgen
9. Augustmerkel und NRW
16. August Spuren der Macht
23. August Die großen Niederlagen
Die nächsten Folgen
4. September Merkel und die Krisen
13. September Die großen Siege
20. September Das Kanzlerinnen-abc Alle Folgen unter
www.rp-online.de/merkeljahre