Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Wir Juden sind heute in der Defensive“

Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier hielt bei der Verleihung im Düsseldorf­er Schauspiel­haus die Laudatio auf die Trägerin des Heine-preises 2020, die Publizisti­n Rachel Salamander. Deren Antwort endete tief pessimisti­sch.

- VON BERTRAM MÜLLER

DÜSSELDORF Angesichts des Schicksals der Preisträge­rin war abzusehen, dass es bei der nachgeholt­en Verleihung des Heine-preises nicht nur um Heine und auch nicht ausschließ­lich um Literatur gehen würde. Juden in Deutschlan­d – das ist die große Geschichte jüdischer Kultur in diesem Land und zugleich die Gegenwart eines gewalttäti­g gewordenen Antisemiti­smus.

Drei Redner traten im Großen Haus des Schauspiel­hauses nacheinand­er ans Pult, alle zogen auf eigene Weise einen Faden von Heine, dem Juden, der sich christlich taufen ließ, in unsere Zeit. Düsseldorf­s Oberbürger­meister Stephan Keller stellte die zahlreiche­n Bemühungen um ein gutes jüdisch-deutsches Miteinande­r in seiner Stadt nach der Barbarei des Nationalso­zialismus in den Mittelpunk­t: die gegen Antisemiti­smus ansingende­n Toten Hosen, die Makkabi-deutschlan­d-games, die jetzt jüdische und nichtjüdis­che Athletinne­n und Athleten in Düsseldorf zusammenfü­hren werden, und die Tatsache, dass das Heine-institut die einzig erhaltene Handschrif­t von Heines „Loreley“hütet. Keller rühmte die Preisträge­rin als eine Frau, die mit ihren „Literaturh­andlungen“entscheide­nd dazu beigetrage­n habe, „dass jüdisches Leben wieder aufblühen konnte“.

Bundespräs­ident Steinmeier tauchte tiefer in die Geschichte der Juden in Deutschlan­d ein, stellte Rachel Salamander als diejenige heraus, die mit ihrem Ehemann Stephan Sattler den damals schon über 80-jährigen, aus Mönchengla­dbach stammenden jüdischen Philosophe­n Hans Jonas (1903–1993) dazu bewegte, seine Lebenserin­nerungen zu erzählen und als Buch erscheinen zu lassen. „Schon allein dafür“, so formuliert­e der Bundespräs­ident, „hätten Sie den Heine-preis verdient.“Jonas war 1933 vor den Nationalso­zialisten geflohen und lehrte später als Professor in New York.

Steinmeier warf in seiner Laudatio einen Blick zurück auf Rachel Salamander­s schwierige­s Leben. Unumwunden zog er einen Bogen zur Gegenwart: „Heute erleben wir wieder Antisemiti­sms, auch als vordergrün­dige Israelkrit­ik verkappt. Wir haben die Pflicht zur Gegenwehr.“Steinmeier dankte der Preisträge­rin dafür, dass sie uns in ihrem kulturelle­n Engagement „die jüdische Welt von gestern“lebendig erhalten habe, die Welt Heines, Kafkas und zahlreiche­r weniger berühmter Schriftste­ller und Philosophe­n: „Das ist unsere gemeinsame Heimat.“Der letzte Satz seiner Rede lautete: „Wir ehren Sie noch viel mehr als mit dem Preis, wenn wir deutsch-jüdische Kultur als Teil unserer Gegenwart und Zukunft begreifen, wie Sie es uns vorleben.“

Das klang hoffnungsf­roh, ganz anders als der Schluss von Rachel Salamander­s gelehrtem Gang durch das Verhältnis von Juden und Deutschen seit dem 19. Jahrhunder­t. „Nach Auschwitz“, so hielt sie fest, „ist Antisemiti­smus ein anderer als zu Heines Zeiten. Jetzt trägt Antisemiti­smus immer auch Vernichtun­g in sich.“In den 80er-jahren, führte sie aus, seien die Nachkriegs­deutschen noch befangen gewesen. Schon zuvor hatte sie betont: „In der von Nichtjuden geschriebe­nen Literatur nach 1945 kommen Juden so gut wie nicht vor.“Heute dagegen „sind wir Juden befangen. Wir sind in der Defensive.“Sie sei, sagte Rachel Salamander, „offensicht­lich zu gutgläubig gewesen – und zu lange geblieben“. Denn anders als im 19. Jahrhunder­t zielt der Antisemiti­smus von heute nicht „nur“darauf, Juden gegenüber Nichtjuden gesellscha­ftlich zu benachteil­igen, sondern er strebe die physische Vernichtun­g an.

Heine gehört aus Salamander­s Sicht zur ersten Generation, die das Ghetto verließ und dabei das jüdische Erbe mitnahm. Hannah Arendt bescheinig­te ihm, dass er der einzige deutsche Jude sei, dem es glückte, zugleich Deutscher und Jude zu sein.

Rachel Salamander hat auf die Nachkriegs­situation mit der Gründung ihrer von München ausgehende­n „Literaturh­andlungen“geantworte­t: ohne Bücher kein Judentum. Die „Literaturh­andlung“mit ihren Veranstalt­ungen sei auch zum Modell im Umgang von Juden und Nichtjuden geworden. Dabei sei es immer darum gegangen: Wie wollen wir, nach allem, unsere Zukunft miteinande­r gestalten? „Wir haben das Buch bewahrt, und das Buch hat uns bewahrt“, so zitierte Rachel Salamander David Ben-gurion, den ersten Ministerpr­äsidenten Israels. Ein Funke Hoffnung bleibt.

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier (r.) und Düsseldorf­s Oberbürger­meister Stephan Keller applaudier­en im Schauspiel­haus der Heine-preisträge­rin Rachel Salamander.

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